Kurt (MERZ) Schwitters
Maler, Bildhauer, Graphiker und Dichter
Geb. 20.6.1887 in Hannover
Gest. 8.1.1948 in Ambleside/ Großbritannien
„Wir leben 25 Minuten zu spät, und zwar von rechts gesehen. Von links gesehen leben wir 20 Minuten zu kurz. Zu spät und zu kurz ist unser rechtes und linkes Schicksal. Sieht man uns aber von oben, so sind wir platt wie eine Fibel, sieht man uns von unten, so sind wir hoch wie ein Zylinder. Von vorn betrachtet man unsere Rücksicht und von hinten unseren Bauch, denn den haben wir auch. Schmilzt nun der Schnee zwischen unseren Zehen, so bekommen wir heftige Zahnschmerzen, die erst aufhören, wenn uns die Sonne direkt ins Gehirn scheint. Dadurch entstehen aber die erleuchteten Gedanken, deren einer genügt, um Weisheiten wie diese hier niederzuschreiben.“
(Kurt Schwitters: „WIR LEBEN 25 MINUTEN ZU SPÄT“ (1938)
„Die Kunst ist eine eigentümliche Blume, die keinerlei Bindung verträgt“.
1889 ziehen die Schwitters innerhalb Hannovers um, erst in die Veilchenstraße, dann in die Waldhausenstraße 5. Beide Adressen werden im Werk Kurt Schwitters immer wieder eine Rolle spielen. Ab 1894 besucht Kurt Schwitters das Realgymnasium. 1901 treten bei ihm die ersten epileptischen Anfälle auf. Nach dem Abitur 1908 und zwei Semestern Studium an der Kunstgewerbeschule Hannover studiert er von 1904-1914 freie Kunst an der Dresdner Akademie der Künste bei Carl Bantzer, Gotthardt Kuehl, Emanuel Hegenbarth (Ausbildung in den klassischen Fächern Porträt, Anatomie, Tiermalerei und Genre) sowie dem Literaturhistoriker Oskar Walzel.
1911 beteiligt sich Kurt Schwitters an der August-Ausstellung im Kunstverein Hannover, wo er sich 1915 auch niederläßt und im selbem Jahr Helma Fischer heiratet. 1915/16 verbringt der Künstler einige Wochen im westfälischen Opherdicke. 1917 wird er zum Militärdienst eingezogen, den er zuerst in der Schreibstube in Hannover ableistet, dann als hilfsdienst–pflichtiger technischer Zeichner im Eisenwalzwerk Wülfel bei Hannover.
Er wendet sich von der figurativen Malerei ab und dem expressionistisch-kubistischen Stil zu und verfasst erste Gedichte. 1918 lernt er Herwarth Walden (den zweiten Ehemann der Dichterin Else Lasker-Schüler) kennen, stellt in der Berliner Galerie „Der Sturm“ aus, studiert zwei Semester Architektur und gründet – nach Kontakten mit Raoul Hausmann und Hans Arp – in Hannover einen Ableger der Berliner bzw. Zürcher Dada-Bewegung. Zum Programmtitel seiner Kunst macht er ab 1919 das MERZ.
„Merz – das ist die zweite Silbe des gedruckten Wortes Commerzbank. Kurt Schwitters fertigte bereits seit 1918 Collagen. 1919 entstand eine Arbeit aus Papieren, Holz und Drähten und Farben, in dem auf einem Zeitungsfragment die Silbe „MERZ“ auftauchte, die dem Bild den Namen gab: “Sie können es verstehen, daß ich ein Bild mit dem Worte MERZ das MERZbild nannte, wie ich ein Bild mit »und« das und -Bild und ein Bild mit »Arbeiter« das Arbeiterbild nannte. Nun suchte ich, als ich zum ersten Male diese geklebten und genagelten Bilder […] ausstellte, einen Sammelnamen für diese neue Gattung, da ich meine Bilder nicht einreihen konnte in alte Begriffe, wie Expressionismus, Kubismus, Futurismus oder sonstwie. Ich nannte nun all meine Bilder als Gattung nach dem charakteristischen Bilde MERZbilder.” (Kurt Schwitters. Merz 1927)
Aber MERZ – ein gefundenes Fragment, eingearbeitet in ein Bild – ist mehr als ein zufällig gefundener, klassifizierender Begriff. Es ist ein Vorgang, ein künstlerisches Tun und Verhalten, für das Schwitters das Wort MERZEN offensichtlich passend schien – vielleicht weil es eine ganze Bandbreite semantischer Assoziationen zuläßt, vom Aufbrechen erster Blüten im Frühjahr bis zum Beseitigen unliebsamer Sinngebungen.
Praktisch gesehen bedeutet der Vorgang des Merzens, Materialien verschiedenster Art zu sammeln, aus ihnen auszuwählen und sie zu einem Bild, einer Skulptur oder einem Text zusammenzufügen. Schwitters tat dies, wo er immer er stand und ging: mit offenen Augen und Ohren herumlaufen, Unbeachtetes aufheben, mitnehmen und Dinge, die bisher nichts miteinander zu tun hatten, zu etwas Neuem zusammenzubringen. “So habe ich zunächst Bilder aus dem Material konstruiert, das ich gerade bequem zur Hand hatte, wie Straßenbahnfahrscheine, Garderobemarken, Holzstückchen, Draht, Bindfaden, verbogene Räder, Seidenpapier, Blechdosen, Glassplitter usw. Diese Gegenstände werden, wie sie sind, oder auch verändert in das Bild eingefügt, je nachdem es das Bild verlangt. Sie verlieren durch Wertung gegeneinander ihren individuellen Charakter, ihr Eigengift, werden entmaterialisiert und sind Material für das Bild.” (Kurt Schwitters. Merz 1923)
Quelle: http://www.kurt-schwitters.org/
Zu Schwitters literarischen Werken, die ihn als einen Vorläufer der konkreten Poesie ausweisen, gehören seine Lautgedichte (v.a. „Anna Blume“, 1919) sowie die „Ursonate“ (1932), bei der die Bedeutung völlig hinter die Klangqualität des Sprachmaterials zurücktritt.
„AN ANNA BLUME (1919)
Oh Du, Geliebte meiner 27 Sinne, ich liebe Dir!
Du, Deiner, Dich Dir, ich Dir, Du mir, —- wir?
Das gehört beiläufig nicht hierher!
Wer bist Du, ungezähltes Frauenzimmer, Du bist, bist Du?
Die Leute sagen, Du wärest.
Lass sie sagen, sie wissen nicht, wie der Kirchturm steht.
Du trägst den Hut auf Deinen Füssen
und wanderst auf die Hände,
Auf den Händen wanderst Du.
Halloh, Deine roten Kleider, in weisse Falten zersägt,
Rot liebe ich Anna Blume, rot liebe ich Dir.
Du, Deiner, Dich Dir, ich Dir, Du mir, —– wir?
Das gehört beiläufig in die kalte Glut!
Anna Blume, rote Anna Blume, wie sagen die Leute?
Preisfrage:
1. Anna Blume hat ein Vogel,
2. Anna Blume ist rot.
3. Welche Farbe hat der Vogel?
Blau ist die Farbe Deines gelben Haares,
Rot ist die Farbe Deines grünen Vogels.
Du schlichtes Mädchen im Alltagskleid,
Du liebes grünes Tier, ich liebe Dir!
Du Deiner Dich Dir, ich Dir, Du mir, —- wir!
Das gehört beiläufig in die —- Glutenkiste.
Anna Blume, Anna, A—-N—-N—-A!
Ich träufle Deinen Namen.
Dein Name tropft wie weiches Rindertalg.
Weisst Du es Anna, weisst Du es schon,
Man kann Dich auch von hinten lesen.
Und Du, Du Herrlichste von allen,
Du bist von hinten, wie von vorne:
A——N——N——A.
Rindertalg träufelt STREICHELN über meinen Rücken.
Anna Blume,
Du tropfes Tier,
Ich——-liebe——-Dir!“
In den folgenden Jahren erscheinen zahlreiche Schwitters-Gedichte, Prosawerke, polemische Artikel und Ideen in diversen Berliner Zeitschriften („Der Sturm“) und mit „Revolution in Revon“ entstehen erste Teile des unvollendeten Romans „Franz Müllers Drahtfrühling“. 1920 stellt Kurt Schwitters zum erstenmal in der New Yorker „Societé Anonyme“ aus und arbeitet an seinen Merzskulpturen, die später in den Merzbau integriert werden. Sein Anna-Blume-Plakat ziert zahlreiche Hannoveraner Litfaßsäulen.
Es folgen ab 1921 Ausstellungen in New York, München, Jena und Hannover. Eine Rezitation von Hausmanns Laut- oder Plakatgedicht „fmsbwtzäu“, inspiriert ihn in den folgenden Jahren zu seiner Sonate in Urlauten. Schwitters geht auf Vortragsreise nach Prag, hat erste öffentliche Lesungen und Auftritte in Dresden, Jena und Weimar, stellt in Düsseldorf und Hannover aus und beteiligt sich 1922 am Dadaisten- und Konstruktivistenkongreß in Weimar. In seinem Haus in Hannover entsteht ab 1923 der Merzbau, der über die nächsten vierzehn Jahre fortgesetzt wird. Er arbeitet, gemeinsam mit Hans Arp, an seinem Roman „Hans Drahtfrühling“ weiter. Die erste große Merz-Matinee findet am 30. Dezember 1923 im hannoverschen Tivoli statt; weitere Merz-Abend folgen. 1924 eröffnet Schwitters seine eigene Merz-Werbezentrale.
1929 beteiligt sich Kurt Schwitters mit neun Werken an der Ausstellung „Abstrakte und surrealistische Malerei und Plastik“ im Kunsthaus Zürich. Es folgt die erste Reise nach Norwegen, wo er die nächsten vier Jahre regelmäßig einige Monate im Jahr verbringt. Gemeinsam mit Käte Steinitz schreibt er das Opernlibretto „Der Zusammenstoß“. Als nunmehr offizieler Typograph der Stadt Hannover entwirft er auch alle amtlichen Drucksachen von Karlsruhe, wo er außerdem die grafische Gestaltung von Walter Gropius‚ Bauprojekt der „Dammerstock-Siedlung“ übernimmt.
1932 wird Schwitters Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Nachdem die Lebens- und Arbeitsbedingungen für ihn nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten immer schwieriger werden und viele seiner Freunde und Malerkollegen bereits Berufsverbot haben, entschließt sich auch Kurt Schwitters, Deutschland zu verlassen. und reist Ende 1936 nach Norwegen. Letzter Anstoß zum Exil ist nicht zuletzt die Ausstellung „Entartete Kunst“, die im Juli 1937 in München eröffnet wird, und auf der neben vielen anderen auch vier Arbeiten von Schwitters vertreten sind. Am 24. Juli teilt er brieflich mit, daß er gezwungen ist, „wie so viele meiner Volksgenossen, im Ausland zu leben.“
Bis zu seiner neuerlichen Flucht nach der Invasion der Nationalsozialisten in Norwegen im April 1940 lebt er zusammen mit seinem Sohn Ernst und dessen erster Frau in einem Haus in Lysaker bei Oslo. Helma Schwitters bleibt in Hannover zurück, um die Häuser der Familie – nicht zuletzt ein wirtschaftlicher Hintergrund – und den Merzbau mit Schwitters wichtigsten Arbeiten zu versorgen. Im Unterschied zu den Jahren in Hannover lebt Schwitters in Norwegen isoliert und leidet unter dem Verlust seiner künstlerischen Verbindungen. Versuche, in der Schweiz oder in den USA Asyl zu finden, scheitern. Zunächst erlauben seine finanzielle Situation auch keine Reisen, nach Kriegsbeginn hält ihn die Furcht vor der Verweigerung einer Wiedereinreise zurück.
Nach der Invasion der Nationalsozialisten in Norwegen flüchten Ernst, Esther und Kurt Schwitters im Frühjahr 1940 nach England, wo die Familie in den kommenden 17 Monaten in verschiedenen Internierungslagern verbringt, zuletzt und am längsten in Douglas/ Isle of Man. Ab Ende 1941 lebt Kurt Schwitters in London, ab 1945 in Ambleside/ Lake District.
Zwar lebt Schwitters in England nicht mehr ganz so isoliert wie in Norwegen, aber auch hier stößt seine abstrakte Arbeit weitgehend auf Unverständnis. Schwitters‘ Leben ist von Krankheiten und der Suche nach Förderern geprägt. Der Tod seiner Frau Helma und die Zerstörung des Merzbaus infolge der Bombardierung Hannovers 1943 belasten ihn außerordentlich. In den ersten Jahren nach Kriegsende nimmt er wieder intensiven brieflichen Kontakt mit alten Freunden und Mitstreitern in ganz Europa auf, plant (teilweise gemeinsame) künstlerische und publizistische Projekte, doch ist es ihm weder möglich, nach Hannover zurückzukehren noch in die USA zu reisen. Erst 1947 erhält er ein größeres Stipendium vom Museum of Modern Art in New York.
Kurt Schwitters beginnt daraufhin mit der Arbeit an seinem dritten Merzbau, an dem er trotz seines geschwächten Zustandes baut solange seine Kräfte es ihm erlauben. Der bereits seit längerem Schwerkranke stirbt im Krankenhaus von Kendal, wird in Ambleside beerdigt und 1970 in seine Geburtsstadt Hannover überführt.
Literatur:
Kurt Schwitters, Hans Arp,
Hartwig Fischer:
„Schwitters Arp“
Hatje Cantz Verlag, 2004
ISBN: 3775713832
Links (deutsch):
http://www.kurt-schwitters.org
http://www.merzbau.org/Schwitters.html
http://merzbaurekonstruktion.com/merzbau.htm
http://www.uni-stuttgart.de/ndl1/schwitters1.htm
http://www.uni-stuttgart.de/ndl1/schwitters2.htm
http://www.uni-stuttgart.de/ndl1/schwitters3.htm
http://www.altekunst.de/kuenstler/schwitters_kurt.htm
http://raffiniert.ch/sschwitters.html
http://demo.sfgb-b.ch/TG/20erJahre/Bibliothek/Dada/SchwittersStart.htm
http://www.nzz.ch/2002/05/24/fe/page-article85VXG.html
http://webling.at/shg/kreativitaeten/schwitters_in_der_gegend_des_paradieses.html
http://www.zvab.com/angebote/kurt-schwitters.html
http://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_Schwitters
http://www.museumderdinge.de/werkbund_archiv/geschichte/kurt_schwitters_rede_werkbundtagung_1928.php
International:
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