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Silone, Ignazio

H.A.M. 0

Ignazio Silone
Schriftsteller


Geb. 1.5.1900 in Pescina, Abruzzen/ Italien (unter dem Namen Secondino Tranquilli)
Gest. 22.8.1978 in Genf/ Schweiz


Kindheit und Jugend in den Bergen waren monoton, erinnert sich Ignazio Silone am Ende eines wechselvollen Lebens. „Während die Eltern, Verwandte und Bekannte über Dinge sprachen, die wir nicht verstanden, schauten wir ins Feuer.
Das war kein sehr anregendes Leben. Ja, man konnte geradezu dumm dabei werden, verblöden. Oder aber zum Poeten werden und Gefallen finden am Denken und Meditieren – je nach Veranlagung.“

(Ignazio Silone: Notausgang, 1965)


Silone hat diesen zweiten Weg gewählt. Wohl kaum bewusst, vielmehr geprägt von der tristen Umgebung, in der er groß wurde. Vom harten Leben der Bauern und Tagelöhner, der Armut und fehlenden Bildung, einer bigotten Kirche. Geprägt auch durch den Vater, der sich politischem Opportunismus widersetzt und während der Wahlen 1907 gegen die Kandidatur des regionalen Fürsten und Großgrundbesitzers Torlonia stimmt. Durch die Mutter, für die er Briefe an einen unschuldig zu lebenslänglicher Haft Verurteilten ins Gefängnis schreibt. Und nicht zuletzt durch das schwere Erdbeben vom Januar 1915, das nicht nur 30.000 Menschen den Tod bringt, sondern auch die Heuchelei und Falschheit von Nachbarn und sogar Familienmitgliedern offenbart, die Leid und Zerstörung ausnutzen, um sich selbst zu bereichern. Bei dem Unglück kommen seine Mutter und andere Angehörige ums Leben, nur die Großmutter und der jüngere Bruder Romolo überleben. Silones Vater war bereits 1911 gestorben.

Sein Geburtsdatum, der 1. Mai 1900, wurde Programm: Nachdem er mit 17 Jahren die katholische Internatsschule verlässt, beteiligt er sich an ersten „revolutionären“ Protesten gegen die Obrigkeit und wird zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er eine gewalttätige Demonstration gegen eine Polizeikaserne in Pescina anführt. Kurz darauf geht er nach Rom und schließt sich der sozialistischen Bewegung an. 1921 gehört er zu den Mitbegründern der Kommunistischen Partei Italiens – von der er sich knapp zehn Jahre später schweren Herzens wieder löst, u.a. weil er mit der Moskauer Linie nicht einverstanden ist. 1931 wird er aus der Partei ausgeschlossen.

Zeitlebens wird Silone sein politisches und soziales Engagement hinterfragen und hinterfragen müssen; immer bleibt er ein Zerrissener. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, mit dem Entstehen eines geeinten Europas, scheint er eine gewisse innere Ruhe und seine Richtung zu finden: als sozialistischer Europäer ohne Partei, als Christ ohne Kirche. Er wird zum überzeugten Humanisten und Aufklärer, der, wie seine deutsche Biografin Dagmar Ploetz schreibt, sich gewünscht hatte, dass an seinem Totenbett das Vaterunser gebetet würde, der aber keine religiöse Zeremonie bei seinem Begräbnis wollte.


Ab 1921 bringen ihn seine politischen Aktivitäten nach Moskau und Triest; mit der Machtergreifung Mussolinis ist er gezwungen, Italien zu verlassen; die Partei schickt ihn nach Berlin, Spanien, Frankreich. In Madrid, Barcelona und Paris verbüßt der Kommunist Silone mehrere Gefängnisstrafen, 1925 wird er nach Italien ausgewiesen, wo er weiter illegal für die KPI arbeitet und schließlich 1927 ins Schweizer Exil flieht. Mit kurzer Unterbrechung wird er dort bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs leben. Im Oktober 1944 kehrt er nach Italien zurück. Neben intensiver Parteiarbeit schreibt er in all diesen Jahren für linke Zeitschriften und beginnt im Exil mit der Arbeit an seinen ersten Romanen. Bereits 1933 erscheint in der Schweiz Fontamara, zuerst in deutscher Übersetzung, 1947 wird der Roman in Italien im Original herausgegeben.


Dann Anfang der 1990er Jahre der Schock – das Bild des inzwischen in ganz Europa geschätzten Literaten Silone bekommt böse Risse: Zwei junge italienische Historiker, Diario Biocca und Mauro Canali, finden unabhängig voneinander Unterlagen, die zu beweisen scheinen, dass der Schriftsteller in den ’20ern Informant der faschistischen Geheimpolizei OVRA war. Deckname: Silvestri.
Welcher Art war die geheimdienstliche Tätigkeit von Silvestri alias Silone, und wie ist sie einzuordnen und zu bewerten? Kann es sein, dass, wie einige glauben wollen, Silone nur seinem Bruder Romolo helfen wollte, der wegen Mitgliedschaft in der KPI und angeblicher Beteiligung am Attentat auf den italienischen König im April 1928 festgenommen und in einem ersten Prozess zum Tod verurteilt worden war? Oder hatte sich Silone in diesen Jahren schon so weit von der kommunistischen Partei und den Genossen entfernt, dass er ein Gegengewicht brauchte und suchte?


1929 erklärt Silone seinen Genossen in der KPI, er sei krank und wolle sich politisch zurückziehen. Am 13. April 1930 schreibt der Informant Silvestri an seinen Führungsoffizier bei der faschistischen Polizei: „Ich befinde mich an einem entscheidenden Punkt meiner Existenzkrise, die nur einen einzigen Ausweg erlaubt: den vollkommenen Verzicht auf aktive Politik. … Ich will ein neues Leben beginnen…, um das Schlechte, was ich getan habe, wieder gut zu machen, … um Gutes zu tun für die Arbeiter, für die Bauern…“ (aus: DLF-Feature von Henning Klüver: Heiliger oder Verräter? Die Lebenstragödie des Ignazio Silone, 23.4.2002). 1931 beschließt die KPI Silones Parteiausschluss, aber hat ihn auch die faschistische Geheimpolizei so ohne weiteres gehen lassen? Die Verbindung zum Regime Mussolinis ist nicht der einzige Bruch in Silones Leben. Noch immer im Schweizer Exil unterhält er anscheinend rege Verbindungen zum amerikanischen Office of Strategic Services (OSS), dem Vorgänger des CIA. Wieder unter verschiedenen Decknamen. Geht es um Geld, um Unterstützung für den Aufbau einer neuen sozialistischen Partei in Italien, um Kontakte zu anderen sozialistischen Bewegungen in Europa und Übersee? Auch in diesem Fall ist es schwierig, Silones geheime Tätigkeit einzuordnen. Silone selbst wird sich bis zu seinem Tod 1978 nie zu diesen Aktivitäten äußern.
Die Journalistin Franca Magnani, die als Kind mit ihren Eltern ebenfalls im Exil in der Schweiz lebte, erinnert sich an Silone und schreibt in ihrem Buch Eine italienische Familie: „Gelegentlich seufzte er zwischen zwei Hustern: ‚Es ist ein langer, mühsamer Weg, bis man Mensch wird.'“ Und auch Dario Biocca nimmt ihn in Schutz, wenn er sagt: „Seine Bücher sind eine Form der Beichte.“ Und Bekenntnis einer kompromisslosen sozial-christlichen Lebensauffassung.


Immer wieder setzt er sich in seinen Büchern mit der sozialen Lage der kleinen Leute auseinander, mit der Zugehörigkeit zur kommunistischen Partei, mit Verrat, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, aber auch mit dem christlichen Glauben und der Rolle der katholischen Kirche im Leben eines Einzelnen. Seine „Helden“ sind die „cafoni“, die Kleinbauern und Tagelöhner aus den Abruzzen, Abhängige des Klimas, der kargen Böden und der Großgrundbesitzer. Plötzlich begreifen wir, wieso es jahrzehntelang abertausende von Italiener nach Mittel- und Nordeuropa und in die Neue Welt gezogen hat. Gewiss, wir würden heute – im Zeitalter rasend schnell wechselnder Fernsehbilder, überbordender Informationen und globaler Vernetzung – manches anders darstellen, uns vielleicht „neumodischer“ ausdrücken, vor allem weniger lehrhaft. Und doch – die Ungerechtigkeit in der Welt, gegen die Ignazio Silone immer wieder angeschrieben hat, ist nicht beseitigt, der „cafone“ nicht ausgestorben. Es lebt überall, in Afrika und Asien, in Lateinamerika und selbst in Europa. Statt des feudalen Großgrundbesitzers herrscht heute der multinationale Konzern. Und auch Silones Auseinandersetzung mit der Kirche als Institution hat nichts von ihrer Aktualität verloren. Vielleicht – und dieser Vorschlag an die deutschen Verleger mag erlaubt sein – würde eine Neuübersetzung von Silones Werk seine Bedeutung für unsere Zeit noch unterstreichen.


Autorin:

Petra Reategui


Werke:

Fontamara, Roman, 1933
Die Reise nach Paris, Novellen, 1934
Wein und Brot, Roman, 1937
Der Samen unter dem Schnee, Roman, 1941
Und er verbarg sich, Drama, 1944
Eine Handvoll Brombeeren, Roman, 1952
Das Geheimnis des Luca, Roman, 1957
Der Fuchs und die Kamelie, Roman, 1960
Das Abenteuer eines armen Christen, Drama, 1968
Severina, unvollendeter Roman, Hrsg.: 1981


Politische Schriften und Essays:

Der Faschismus: seine Entstehung und seine Entwicklung, 1934
Die Schule der Diktatoren, 1938
Notausgang, 1965
Memoriale del carcere svizzero, 1979


Journalistische und redaktionelle Arbeit u.a. für:

„Il Lavoratore“, Triest, ab 1921
„Information“, Schweiz, ab 1932 (Mitbegründer)
„L’Avenire dei lavoratori“, ab 1941
„Avanti“, ab 1945 (Leiter)
„Europa socialista“, ab 1946
„Bollettino dell‘ Associazione per la libertà della cultura“, ab 1951 (Mitbegründer)
„Tempo presente“, ab 1956 (Mitbegründer)
„Il resto del Carlino“, ab 1962


Auszeichnungen (Auswahl):

Ehrendoktor der Universität Yale (1966) Ehrendoktor der Universität Toulouse (1970) Gottfried – Keller – Preis (1973)
Die Region der Abruzzen stiftet seit 1988 den jährlichen Ignazio-Silone-Literaturpreis, mit dem vor allem sozial engagierte Schriftsteller ausgezeichnet werden.


Literatur über Ignazio Silone (Auswahl):

Dagmar Ploetz:
Ignazio Silone
Rebell und Romancier
Ein Schriftstellerleben im 20. Jahrhundert
Kiepenheuer & Witsch, 2000

Bruno Falcetto:
Ausführliche Biografie auf Italienisch in der italienischen Gesamtausgabe der Werke von Ignazio Silone
I Meridiani, Mondadori,
Volume I, 1998
Volume II, 1999

Henning Klüver:
Heiliger oder Verräter?
Die Lebenstragödie des Ignazio Silone
Deutschlandfunk, Feature vom 23. April 2002
Länge: 45 Minuten

Dario Biocca/Mauro Canali
L’Informatore: Silone, i comunisti e la polizia (Der Informant: Silone, die Kommunisten und die Polizei – über das Doppelleben Silones zwischen 1923 und 1930)
Luni Editrice, 2000


Links (deutsch):

http://www.kiwi-koeln.de/autorinhalt.php?suchbuchstabe=s&autorid=882

http://www.peterkamber.ch/ignazio.html


International:

http://www.italialibri.net/autori/silonei.html

http://www.silone.it/vita.htm


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