Alice Stertzenbach
Widerstandskämpferin
Geb. 9.1.1909, Dortmund
Gest.19.2.1996, Frankfurt
Alice S. hatte die seltene Gabe, die Tür zu den Idealen zu öffnen. Und das zu „tun, was der Augenblick erfordert“. Den aufrechten Gang, das Zurücknehmen der eigenen Person für die Sache. Das tat sie nicht nur im Widerstand, sondern auch im Alltag.
1936 entging sie einer erneuten Verhaftung durch die Flucht nach Holland. Dort meldete sich die mittellose Emigrantin als Flüchtling beim jüdischen Komitee. Und sie wirkte beim Aufbau eines Kulturzentrums für deutschjüdische Emigranten mit, wurde stellvertretende Leiterin des Hauses Ostende. Sie lernte die Schwestern Margot und Anne Frank kennen. Die Kultur des ‚anderen Deutschlands‘ und antifaschistisches Gedankengut wurden gepflegt, bekamen ein Zuhause. Die Pflege der deutschen Sprache hielt Alice für ein Stück Widerstand. Vielleicht im Sinne von Heinrich Heine: aus einem Patriotismus heraus, der nicht darin hestehvdaß-„das Herz enger wird, daß es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, daß es das Fremdländische haßt“. Sondern im Sinne der Humanität und des Kosmopolitismus.
1943 war sie Mitinitiatorin einer Arbeitsgemeinschaft deutscher und staatenloser Antifaschisten. Vielen leistete sie Hilfe beim Untertauchen, als die Deportationen zunahmen. Sie war selbst nicht nur der Verfolgungsmaschinerie gegen politische Gegner ausgesetzt, sondern auch den Sondermaßnahmen gegen Juden: Sie mußte den gelben Stern tragen. Ab Herbst 1943 ging sie in die Illegalität.
Im Vordergrund der antifaschistischen Arbeit stand für sie die Gewißheit, daß der Faschismus keinen Bestand haben kann, wenn Antifaschisten jedweder Motivation sich im Abwehrkampf zusammenfinden.
Von einer Fernsehjournalistin gefragt, ob sie denn keine Angst gehabt hätte, antwortete Alice: „Ich habe gewußt, was man riskiert, nämlich das Leben, oder die Bequemlichkeit oder … solche Dinge. Wenn man sich das dann durchdenkt, sagt man: Wülste das, biste mitschuldig, oder willste das nicht, wehrst du dich, hilfst du anderen auch -ja, da nimmt man die Konsequenzen in Kauf. Das klingt ein bißchen sehr heroisch, heldenhaft, ist es aber gar nicht. Es ist wohl überlegt, das zu tun, was der Augenblick von mir erfordert.“
Unmittelbar nach der Befreiung vom Faschismus wurde Alice Geschäftsführerin der Vereinigung deutscher und staatenloser Antifaschisten in den Niederlanden. Ihre Aufgabe war es, Aufenthaltsfragen zu klären, die Familienzusammenführung, die Unterstützung, den Nachhilfeunterricht für Kinder, und die Weiter- oder Rückwanderung zu organisieren.
Alice zog die Lehren aus ihren persönlichen Erfahrungen: „Tue mehr zur Erhaltung demokratischer Zustande -auch wenn Dir vieles unzureichend und verbesserungsnotwendig erscheint. Stemme Dich gegen jeden Abbau erkämpfter und ertrotzter Rechte… Sich mit Argumenten zu versorgen, ist leichter, als eines Tages gezwungen zu sein -um mit Brechts Galilei zu sprechen – ‚die Wahrheit unter dem Rock nach Deutschland zu bringen‘.“
Mit ihrem späteren Ehemann Werner, der selbst zehn Jahre in Lagern und in der Illegalität war, kam sie 1946 nach Deutsch-land zurück: „Dort hatte ich Rechte“, sagte sie, „und ich fand es auch notwendig, sich einzuordnen, bei denen, die aufräumen wollten mit dem alten Schutt, der in den Köpfen, aber auch auf den Straßen lag… Es mußten Menschlichkeit, Ordnung, Demo-kratie errichtet werden, damit so etwas nie wieder passiert, keine Gasöfen und keine Exekutionsgerichte.“ Die Kommunistin engagierte sich ehrenamtlich in der Sozialpolitik, setzte sich für die Kriegsopfer und die Verfolgten des Naziregimes ein. Seit 1951 war Alice in Düsseldorf in der Sozialbetreuung für politische Gefangene des kalten Krieges aktiv.
Bis 1957 war sie stellvertretende Geschäftsführerin des ‚Zentralrats zum Schutz demokratischer Rechte und zur Verteidigung deutscher Patrioten‘. Sie organisierte den Rechtsbeistand für die unter Adenauer verfolgten Kommunisten mit, die Solidarität mit den Verfolgten, die Betreuungsarbeit für Gefangene. Sie wurde der Gründung einer ‚verfassungsfeindlichen‘ Vereinigung angeklagt und vom Bundesgerichtshof 1958 zu acht Monaten Gefängnis verurteilt. Die Haftstrafe wurde jedoch ausgesetzt, ihr wurden drei Jahre Bewährungsfrist auferlegt. Mit ihrer Verurteilung wurde aber auch jede Wiedergutmachung aberkannt.
Inzwischen hatte Alice Sterzenbach die Akademie für soziale Frauenberufe in Düsseldorf absolviert. Sie wurde Praktikerin der Familien-Fürsorge, besuchte die Wirtschafts- und Verwal-tungsakademie und war ehrenamtlich fürsorgerisch tätig, vor allem auf dem Gebiet der Altenhilfe. Zunächst war sie in Düsseldorf, dann in Oberhausen angestellt. Sie wollte nützliche Arbeit leisten, aus innerer Neigung und aus besonderer Eignung. Sie schrieb: „Das Leben, das mir durch den Einsatz vieler hilfsbereiter Menschen erhalten blieb, erscheint mir nur sinnvoll, wenn ich es nutze in der Hilfe für jetzt Hilfsbedürftige.“
1966 Umzug nach Frankfurt, wo Werner inzwischen Chefredakteur der Wochenzeitung ‚Die Tat‘ war. Alice arbeitete dort als Referentin für freie Wohlfahrtsverbände, als Leiterin der zentralen Sozialkommission der WN-BdA, Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten. Sie nahm die Interessen der NS-Opfer wahr, und sie vertrat deren Forderungen für eine Entschädigung.
Mitte der siebziger Jahre finden wir Alice in der Chile-Solidarität in Düsseldorf wieder. Solidarität im großen wie im kleinen.
Mit dem Schlaganfall im August 1988 hörte das aktive Leben der Alice nicht auf. Sie blieb auf dem Laufenden, las viel, mischte sich ein. In ihrem Aufsatz zur Lebenshilfe für das Alter hatte sie geschrieben: „Denken erhält elastisch … Nur durch geistige Auseinandersetzung führen wir den Menschen zu der leib-seelischen Harmonie, die so manche Altersbeschwerden ausgleicht.“ Auch in dieser schweren Zeit lebte sie das, was sie dachte. Und gab sich nicht auf. Sie starb am 19. Februar 1996.
Autorin:
Florence Hervé in einem Artikel für die Zeitschrift „Wir Frauen“ 2/96
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