Geb. 17. 8. 1885 in Berlin
Gest. 1.10. 1972 in Marburg
Die berühmte Zeitschrift Weltbühne gehört in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts zu Berlin wie der Funkturm oder der Kudamm. Ähnlich gehören die Autoren Kurt Tucholsky und der spätere Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky zum Unterrichtsgut einer gutgeführten Schule von heute, zumindest sollten sie das. Aber dass zu diesem prominenten Duo ein dritter Autor gehört, ist kaum bekannt: Der Dritte im Bunde war Kurt Hiller, ein bekennender Homosexueller und ein ewiger sozialistischer Träumer bis zuletzt, ein Akademiker, der sich selbst als „geistigen Arbeiter“ sah.
Die kriminalistische Bedeutung des Selbstmordes – schon der Titel seiner Doktorarbeit von 1907 in Heidelberg verrät, dass der Sohn eines Berliner Krawattenfabrikanten nicht den herkömmlichen Juristen-Weg gehen würde: Der frischgebackene Doktor der Jurisprudenz, der in seiner Heimatstadt und in Freiburg studiert hatte, geht zurück nach Berlin, um freier Schriftsteller zu werden. In dieser Aufbruchszeit ist der 23jährige einer der Väter des Literarischen Expressionismus, leitet den Neuen Club und das Cabaret Gnu, schreibt in den Avantgardezeitschriften Pan, Aktion und vor allem im Sturm. 1912 ist Hiller Herausgeber der wahrscheinlich ersten expressionistischen Gedichtsammlung in Deutschland. Sie nennt sich Der Kondor, erscheint bei Richard Weissbach in Heidelberg und vereinigt Gedichte von Max Brod, Ernst Blass, Salomo Friedlaender, Georg Heym, Arthur Kronfeld, Else Lasker-Schüler, Rudwig Rubiner, René Schickele, Franz Werfel, Paul Zech und natürlich von Kurt Hiller selbst.
Am Vorabend des Ersten Weltkriegs gründet Hiller die Vereinigung Aktivismus, um „die dekadente Politik zu durchgeistigen“. Doch die Leser, die das beherzigen sollten, erreicht die Publikationen nicht. Dazu gehören auch die fünf Jahrbücher mit dem Titel Das Ziel: Diese „Manifeste des Tätigen Geistes“ erscheinen zwischen 1916 und 1924. 1917 gründet Hiller den Bund zum Ziel und, angelehnt an den Aktivismus, den Aktivistenbund, aus dem nach der „Novemberrevolution“ von 1918 der Politische Rat geistiger Arbeiter wird.
Konsequent setzt Kurt Hiller seinen Weg fort. Er wird ein wichtiges Mitglied der Deutschen Friedensbewegung, gründet 1926 die Gruppe Revolutionärer Pazifisten (die von den Nazis 1933 verboten wird) und kämpft zugleich für eine Entkriminalisierung des Homosexuellen-Strafrechts. Hier kommt ihm seine juristische Ausbildung zugute, als er 1922 die damals weithin beachtete Publikation § 175: die Schmach des Jahrhunderts veröffentlicht.
Weil den Vorurteilen einer verklemmten Bürgerschaft nicht mit juristischen Argumenten beizukommen ist, schließt er sich dem Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld an und engagiert sich in dessen „Wissenschaftlich-humanitären Komitee“.
Der Arzt Hirschfeld hatte bereits 1919 in Berlin das Institut für Sexualwissenschaft gegründet und die vorherrschenden Meinungen für falsch erklärt, dass Homosexualität ein Laster oder eine Krankheit sei.
1933 wird das Hirschfeld-Institut zwangsgeschlossen und Kurt Hiller mehrere Male verhaftet. Im Konzentrationslager Brandenburg – die Homosexuellen bekommen statt des Judensterns einen rosa Winkel – wird Hiller gepeinigt, kann jedoch nach einer kurzfristigen Entlassung nach Paris ins Exil flüchten. Die französische Hauptstadt wimmelt wie nach der Oktoberrevolution von 1918 in Russland wieder von Exilanten. Diesmal aus Deutschland.
So sympathisch seinen Freunden und Leidensgenossen diese Bemühungen auch gewesen sein dürften, sie waren letztlich wenig erfolgreich. 1955 entschloss sich Hiller deshalb zur Remigration nach Deutschland. Aber einen richtigen Fuß auf dem Boden sollte er auch hier nicht mehr bekommen – ein Schicksal, das viele Heimkehrer mit ihm teilten. Doch unermüdlich hängt er seinem Traum vom Sozialismus nach, schreibt für billig vervielfältigte Zeitschriften wie contra, Zwischen den Kriegen oder Lynx, gründet 1956 den Neusozialistischen Bund In dieser Splittergruppe propagiert Kurt Hiller seine Vorstellungen vom „freiheitlichen Sozialismus“.
Noch einmal bekommt sein Optimismus Auftrieb, als seine Autobiographie Leben gegen die Zeit fertig ist. Doch er erlebt nur den ersten Band Logos, 1969. Der zweite Band Eros erscheint 1973 posthum.
Im Tod wird er mit seinem Freund Walter Detlef Schulz vereint, indem die Urne mit seiner Asche in dessen Grab auf dem Friedhof Hamburg-Ohlsdorf beigesetzt wird.
Autor:
Hajo Jahn
Literatur:
Wolfgang Beutin / Rüdiger Schütt (Hg.):
Zu allererst antikonservativ.Kurt Hiller (1885-1972)
Hamburg: edition fliehkraft 1998
Links (deutsch):
http://www.hiller-gesellschaft.de/text.htm
http://dispatch.opac.ddb.de/DB=4.1/REL?PPN=118551132
http://www.hirschfeld.in-berlin.de/institut/de/ifsframe.html?personen/pers_20.html
http://www.invertito.de/jahrbuch/inv01_rezmichelsen.html
http://www.forum-muenchen.de/exposition/ns_ausstellung_virtuell/Tafel_1_widerstand.pdf
http://www.invertito.de/jahrbuch/inv01_rezmichelsen.html
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