Václav Havel
Schriftsteller und Politiker
Geb. 5.10.1935 in Prag/ CSSR
Gest. 18.12.2011 in Trautenau/ Tschechien
„Vorsicht, ihr raschen Zugreifer! Hier spricht ein Rebell, einer von der ganz gefährlichen, von der sanften und von der höflichen Sorte.“
Heinrich Böll über Václav Havel
Václav Havel wurde in einer „bourgeoisen“, nach dem kommunistischen Umsturz 1948 enteigneten Familie geboren. Wegen seiner Herkunft konnte er nur auf Umwegen Ober- und Hochschulbildung erlangen. 1951-1955 Lehre bzw. Arbeit als Chemielaborant, 1954 Abitur an einer Abendschule. Nach dem alle Bemühungen um ein geistesswissenschaftliches Studium gescheitert waren, 1955-1957 Studium der Verkehrswirtschaft an der Technischen Hochschule in Prag, das er jedoch wegen einer vergeblichen Bewerbung an der Filmfakultät der Akademie der musischen Künste nicht beenden durfte. 1955 debütierte er mit Kritiken in der Zeitschrift „Kveten“ (Mai), später (bis 1969) publizierte er in allen wichtigen tschechischen Literaturzeitschriften. 1957-1959 Militärdienst. Die Bewerbung an die Theaterfakultät der Akademie der musischen Künste wurde aus politischen Gründen abgelegt (später absolvierte Havel dort ein Fernstudium, 1966 Abschluss im Fach Dramaturgie). 1959 schrieb er sein erstes Stück, den Einakter „Rodinný vecer“ (Ein Familienabend). 1959/60 Kulissenschieber am Theater ABC in Prag. 1960 bis Sommer 1968 am Divadlo Na zábradlí (Theater am Geländer) in Prag, zunächst als Bühnentechniker, später als Dramaturg und Hausautor; daneben Regieassistent bei Alfréd Radok an den Städtischen Bühnen. 1964 heiratete er Olga Šplíchalová. 1965 Mitglied des Redaktionsrats der Monatszeitschrift „Tvár“ (Gestalt bzw. Antlitz), die aber noch im selben Jahr unter politischem Druck ihr Erscheinen einstellen musste. Mitarbeit im Schriftstellerverband im Aktiv junger Autoren. Juni 1967 griff er in seiner Rede auf dem Schriftstellerkongress die Zensur und den Machtapparat der Kommunistischen Partei an.
Während des „Prager Frühlings“ 1968 Vorsitzender des Klubs unabhängiger Schriftsteller. Havel war der prominenteste und konsequenteste Wortführer der nichtkommunistischen Intellektuellen, die den Reformprozess unterstützten, ohne die landläufigen Illusionen über dessen Chancen zu teilen. Nach der sowjetischen Okkupation widersetzte er sich der neostalinistischen Gleichschaltung, wurde wegen Beteiligung an zahlreichen Protestaktionen schikaniert, geheimpolizeilich observiert und schließlich 1977, als Mitbegründer und Sprecher der Charta 77, zu 14 Monaten Gefängnis verurteilt. Danach Hausarrest aufgrund fortgesetzter Aktivitäten als Bürgerrechtler und Veröffentlichungen im Ausland. Wegen der Gründung des „Komitees für die Verteidigung der zu Unrecht Verfolgten““ 1979 Verurteilung zu viereinhalb Jahren Haft, von der ihm nur die letzten Monate wegen einer lebensgefährlichen Erkrankung erlassen wurden. Weil er im Januar 1989 eine Gedenkveranstaltung für Jan Palach mitorganisierte (der sich 1969 aus Protest gegen die Okkupation des Landes selbst verbrannt hatte), wurde Havel erneut festgenommen und zu neun Monaten verschärfter Haft verurteilt; nach Weltweiten Protesten Entlassung im Mai. Seit dem 1.8. 1989 Mitbegründer der Böhmisch-Mährischen Schriftstellergemeinde. Als Symbolfigur des Gewaltlosen Widerstands leitete er das Obcanské fórum (Bürgerforum) und war maßgeblich an der „sanften Revolution“ beteiligt, die zum Sturz des kommunistischen Regimes führte und die Rückkehr zur parlamentarischen Demokratie einleitete.
Am 29.12. 1989 Wahl zum Präsidenten der CSFR; nach dem Wahlsieg im Juni Bestätigung in diesem Amt am 5.7. 1990. Als sein Widerstand gegen die Auflösung der tschechoslowakischen Föderation scheiterte, trat er am 20.7. 1992 zurück. Nach der Gründung der Tschechischen Republik wurde er 26.1. 1993 zum Präsidenten gewählt und trat das Amt am 2.2. 1993 an. Am 27.1. 1996 starb Olga Havlová. Am 4.1. 1997 heiratete er Dagmar Veškrnová. Ungeachtet mehrerer gesundheitlicher Krisen stellte er sich zur Wiederwahl. Er wurde am 20.1. 1998 im Amt bestätigt, das er bis zum Ende der Amtszeit am 6.2. 2003 ausübte.
„Die Wahrheit sagen“ ist Havels Maxime; sie war von Anfang an buchstäblich sein Markenzeichen. 1956 hielt er, als junger, weithin unbekannter Autor, eine aufsehenerregende Rede auf einer „Tagung beginnender Autoren“ in Dobríš bei Prag: Er brach ein Tabu, indem er jene Schriftsteller in Erinnerung rief, die von der stalinistischen Kulturpolitik als „bürgerlich dekadent“ aus der Literatur gestrichen worden waren. Havel verlangte die Wiederbesinnung auf die Ästhetik der tschechischen (und europäischen) Moderne, beispielweise auf die Dichter der Gruppe 42, „die die Poesie so hervorragend der modernen Stadt und den Widersprüchen des modernen Lebens geöffnet hat!“ Angesichts der erst einsetzenden Entstalinisierung verriet der Appell beträchtlichen Mut und nicht zuletzt das, was sich am allerwenigsten mit dem Herrschenden Regime vereinbarte: selbstbewusste geistliche Unabhängigkeit.
In einer Zwischenbilanz – dem ausführlichen schriftlichen Interview „Fernverhör“ (1986) – versuchte Havel seine intellektuelle und literarische Entwicklung zu ergründen. Zu Recht beginnt er mit seiner Lebensgeschichte. Als Kind reicher Eltern hatte er unter der Distanz gelitten, die ihn beispielweise von ärmeren Mitschülern trennte. 1948, als Zwölfjähriger, erlebte er die kommunistische Umwälzung der Verhältnisse, seine Eltern wurden enteignet und diskriminiert; nun erfuhr er, gemäß den Spielregeln stalinistischen Klassenkampfes in die Sippenhaftung einbezogen, unter umgekehrten Vorzeichen eine bedrohlich verschärfte, unüberwindliche Entfremdung von der Umgebung: Verdächtigungen, Benachteiligungen, auf unabsehbare Zeit geraubte oder auf entwürdigende Weise eingeschränkte Chancen zur Selbstverwirklichung. Wahrscheinlich noch schwerer zu verkraften – zumal für ein Kind und später für den Halbwüchsigen – war die Absurdität des aufgezwungenen jähen Rollentausches und der radikalen Umwertung: Der Vater und der Großvater (erfolgreiche Bauunternehmer und Architekten), die Mutter (Tochter eines Redakteurs und später Diplomaten), die gesamte Familie und natürlich auch er selbst wurden buchstäblich von einem Tag zum anderen – nach dem allgegenwärtigen sozialen und ökonomischen Szenario – Verkörperungen des Überlebten, Schlechten, Verdammenswerten. Eindringlicher, prägende kann die Kluft zwischen politischen Phrasen und selbst erfahrener Wirklichkeit, zwischen ideologischen Lügen und existenziellen Wahrheiten nicht erlebt werden.
Havels Interesse richtet sich frühzeitig auf das Theater, zunächst aber allgemein auf die Literatur: Während seines an politischen Komplikationen reichen Bildungsgangs begann er zu schreiben. Die ersten Veröffentlichungen ermöglichte 1956 die Zeitschrift „Kveten“, die in der Tauwetter-Periode jenen jungen Autoren Publikationsmöglichkeiten bot, die dem obligaten „sozialistischen Realismus“ eine „Poesie des Alltags“ entgegensetzte.
Der Durchbruch gelang Havel 1963 mit dem Stück „Das Gartenfest“, das an seiner Prager Wirkungsstätte, dem Theater am Geländer, uraufgeführt wurde; wenige Monate später hatte es im Berliner Schiller-Theater Premiere. Schlagartig war er im In- und Ausland der tschechische Dramatiker, der die größten Erwartungen weckte – und, wie sich zeigen sollte, erfüllte.
Wenn es das Theater des Absurden nicht gegeben hätte, so meinte Havel, er hätte es erfinden müssen. Hier sei daran erinnert, dass das absurde Theater in den Ostblockstaaten lange Zeit verboten war und fast bis zuletzt kulturpolitisch beargwöhnt wurde. Nicht die vorgeschobenen ästhetischen Gründe waren dafür entscheidend, sondern politische: Angesichts der zahllosen Absurditäten, die den sozialistischen Verhältnissen innewohnten, gewann diese Art des Theaters, gewollt oder ungewollt, politische Relevanz.
Neben seinen Arbeiten für das Theater verfasste Havel Essays, Aufsätze und Artikel über Theater und Literatur; hinzu kamen, außer mehreren Interviews, zahlreiche Reden und öffentliche Erklärungen. Vor allem „Briefe an Olga“ und die politisch-philosophischen Essays „Versuch, in der Wahrheit zu leben“, „Politik und Gewissen“ (1984), „Anatomie einer Zurückhaltung“ (1985) und „Ereignis und Totalität“ haben ihn als glänzenden Essayisten ausgewiesen: „„(…)ein ruhiger, fast ausgeglichener Zeuge seiner Zeit und Gesellschaft, der den für einen Außenstehenden nicht nur unmerklichen, sondern auch unvorstellbaren Druck eines totalitären Regimes auf den Einzelnen mit fast juristisch durchargumentierter Konsequenz einerseits und weit ausholender sowie durchgreifender Synthese andererseits beschreibt.“ (Marketa Goetz-Stankiewicz)
Seit der „sanften Revolution“ war Havel Staatspräsident. Er verstand sich in dem Amt als intellektuelle Leitfigur in dem heftig geführten Diskurs, wie es in Politik und Gesellschaft weitergehen solle. In Essays, vielen Reden und regelmäßigen Ansprachen über die Medien beschäftigte er sich mit dem Transformationsprozess, widersprach der einseitig ökonomischen Orientierung und betonte die moralischen und geistigen Werte, die einen modernen demokratischen Staat konstituieren müssten. Dem Parteienstaat setzte er die Vision einer Bürgergesellschaft entgegen. Dass er in er Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, auch mit der von der Mehrheit gebilligten Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, heikle Punkte und Tabus nicht scheute, entsprach seinem Naturell und Selbstverständnis. Hatte er früher die Lügen der kommunistischen Partei bloßgestellt, rüttelte er nun an der Selbstgerechtigkeit und den Selbsttäuschungen der Bürger des freien Landes. Auch als Staatsoberhaupt lieb er der unbequeme Intellektuelle. Ihm gilt die Wertschätzung, die er im In- und Ausland unverändert genießt.
Auszeichnungen/ Ehrungen/ Preise (Auswahl):
Obie Award, New York (1968 und 1970); Österreichischer Staatspreis für europäische Literatur (1969); Ehrenpreis der Société des Auteurs, Frankreich (1981); Pariser Theaterpreis Prix Plaisir du Théâtre (1981); Jan-Palach-Preis, Paris (1982); Erasmus-Preis, Niederlande (1986); Prix de la Liberté, PEN-Club Paris (1989); Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1989); Simon-Bolivar-Preis, Venezuela (1990); Rotary-Preis, USA (1990); Preis „Das politische Buch“ der Friedrich-Ebert-Stiftung (1990); Olof-Palme-Preis für öffentliche Verdienste“, Schweden (1990); Gottlieb-Duttweiler-Preis, Schweiz (1990); Sonnig-Preis, Dänemark (1991); Internationaler Karlspreis der Stadt Aachen (1991); Fulbright-Preis für internationale Verständigung, Washington (1997); Cino del Duca, Frankreich (1997); Großer Preis der Universal Academy of Culture, Paris (2001); Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung (2003); Hans-Sahl-Preis (2003).
Autor:
Eckhard Thiele
Die Vaclav Havel Bibliothek
ist eine nichtstaatliche Institution, deren Hauptaufgabe es ist, das Lebenswerk von Vaclav Havel zu archivieren, studieren, interpretieren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und damit an die Komplexität des Kampfes für Freiheit und Demokratie in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts zu erinnern. Ein weiteres Ziel der Bibliothek ist, Forschung, Debatten und Treffen zu initiieren und zu unterstützen, die sich mit der aktuellen Problematik der Transformation der sog. postkommunistischen Länder in sozial, wirtschaftlich und kulturell entwickelte Bürgergesellschaften beschäftigen werden.
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Die Tschechische Bibliothek in 33 Bänden (Reihe)
Herausgegeben von:
Hans Dieter Zimmermann, Eckhard Thiele,
Peter Demetz, Jiri Grusa und Peter Kosta.
Gartenfest
Dramen von Havel, Klima,
Kohout, Topol, Uhde
Auswahl und Nachwort:
Anja Tippner
DVA, Stuttgart/ München 2000
ISBN 3-421-05416-9
Leseprobe
Václav Havel: Audienz
Braumeister:
Nein, nein, Vanek, wenn jemand ein
krummer Hund ist, das erkenne ich
schon von weitem! Sie sind ein
ehrlicher Mann. Ich bin auch ehrlich –
also warum sollen wir uns nicht
zusammentun, was sagen Sie dazu?
Vanek:
Ja – sicher –
Braumeister:
Sind sie also dafür?
Vanek:
Selbstverständlich.
Braumeister:
Wenn Sie es nicht wollen, dann sagen
Sie es nur! Vielleicht wollen Sie sich
nicht mit mir zusammentun. Vielleicht
haben Sie Einwände gegen mich.
Vielleicht haben Sie andere Pläne.
Vanek:
Ich habe keine Einwände gegen Sie. –
Im Gegenteil – Sie haben viel für mich
getan – ich bin Ihnen sehr verbunden –
besonders wenn die Sache mit dem Lager klappen würde. – Ich will
natürlich alles tun, damit Sie mit mir
und mit meiner Arbeit zufrieden sind…
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Diese Leseprobe wurde dem Exil-Archiv freundlicherweise von der Deutschen Verlags-Anstalt zur Verfügung gestellt.
Links (deutsch):
http://www.radio.cz/de/artikel/36232
http://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/havel/
http://www.collegium-carolinum.de/doku/vdok/hav-95.htm
http://www.rowohlt.de/autor/2678
http://www.kundera.de/Info-Point/Polemik_Kundera_-_Havel/polemik_kundera_-_havel.html
International:
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