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Kien, Peter

H.A.M. 0

Peter Kien
Maler und Dichter


Geb. 1.1.1919 in Warnsdorf/ Tschechoslowakei
Gest. Herbst 1944 in Auschwitz/ Polen


Was für ein Künstler. Was für ein kurzes Leben. Welch eine wahnsinnige Liebesgeschichte! Hollywood könnte sie besser nicht erfinden: Der Maler und Dichter Peter Kien, kurz nach Ende des ersten Weltkriegs im böhmischen Warnsdorf in die Tschechoslowakei hineingeboren, überlebte Auschwitz nicht.


Sein Studienfreund an der Prager Kunstakademie und später im schwedischen Exil berühmt gewordene Dichter Peter Weiss hatte ihm noch vor dem Einmarsch der Deutschen zugerufen: „Fliehe, Peter Kien, bleibe nicht hier“ – dieser Peter Kien wurde 25 Jahre alt und starb in Auschwitz 1944 an einer Infektionskrankheit. Peter Weiss konnte sich nach Schweden retten und gedachte 1961 seines Freundes in seiner Erzählung „Abschied von den Eltern“.


Peter Kien gehörte zu den ersten jüdischen Häftlingen, die Theresienstadt in ein Ghetto zu verwandeln hatten. In ein Vorzeigelager, mit dem die Nazis die internationale Öffentlichkeit über die wahre Verfolgung zu täuschen wussten. Die vielen Künstler, die hier zusammengezogen wurden, waren für die SS nichts anderes als Statisten dieses großangelegten Täuschungsmanövers. Sie durften ihre Leidensgenossen mit Theater, Konzerten, Opern und Operetten unterhalten, bevor sie abtransportiert wurden in die Vernichtungslager.


Es gab zahlreiche Maler in Theresienstadt, die das Unglück zeichneten. Peter Kien widersetzte sich der Planwirtschaft des Unglücks, das den Menschen dort zugedacht war. Als Zeichner war er verliebt in alles Lichte, Leichte, Luftige. Kien reduzierte die Menschen im Ghetto nicht auf ihre Not. Er gewann aus der Todesschwere den Abglanz eines Leuchtens, in dem Glaube, Liebe, Hoffnung nicht auslöschbar sind. Kien zeichnete und dichtete im Aufwind seiner Liebe.
Es war zwar sein Lieblingsmodell, das Peter Kien noch in Prag geheiratet hatte, aber wahrscheinlich eine Eheschließung unter dem Druck der Ereignisse, des Einmarsches der deutschen Wehrmacht und der Verfolgung der Juden und unliebsamer Regimegegner. Doch der großen Liebe seines inzwischen befristeten Lebens begegnete er in Theresienstadt, wohin er mit Frau und Schwiegereltern deportiert worden war. Es war die 20jährige Helga Wolfenstein, die wie er in der technischen Abteilung der „Jüdischen Selbstverwaltung“ arbeitete. Dort entstanden Statistiken für die Kommandantur. Die „Jüdische Selbstverwaltung“ hat Maler der Tschechoslowakei zusammen-gezogen ? zu einer Arbeit, mit der sie die Künstler vor dem Abtransport schützen wollte. Das Ghetto als Mitte der Welt: der Tag des Anfangs, die allererste Nacht. Peter Kien brachte die 20jährige von ihrer Arbeitsstätte in die Hohenelber Kaserne, wo sie bei Mutter und Tante wohnte. „Plötzlich waren wir in einem dunklen Gang“, erinnert sich die 79jährige Frau, die Jürgen Serke in Florida fand. „Da hab’ ich einen Kuß bekommen. Ich hab’ gedacht, wie wunderbar. In der Nacht konnte ich nicht schlafen. Peter hat am nächsten Tag gesagt: Sie muß mit mir überall sein.’ Und so begleitete ich ihn bei seinen Arbeiten als Assistentin. Ich war ihm Modell, mit anfänglicher Verwirrung. Jemand hat ihm ein Zimmer gegeben.“


Die Panik vor dem inneren Absterben, ohne gelebt zu haben, ist groß bei Peter Kien. Der Zwang, nicht erkennbar zu sein, ist seit Jahren eingeübt. Helga Wolfenstein wird sein Versteck, in dem er offen reden, alles sagen kann. Sie ist die erste Betrachterin seiner Bilder. Ihr liest er seine Gedichte vor. Sie erlebt die Entstehung des Librettos zu der Oper „Der Kaiser von Atlantis“ Viktor Ullmanns, die erst 1975 uraufgeführt wurde. Er schreibt ihr:


Du zauberhafter Spiegel,
Deine Tiefe
gibt alles, was ich von der Welt ersehnte,
als ob die Sehnsucht, die ich leise riefe,
als hunderstimmig reines Echo tönte,
in Dir ist alle Leidenschaft Form geworden,
wohin mein gierig Herz zu reisen wüßte,
Du bist der Urwald, Du die Felsenküste,
Du der Asphalt New Yorks, im Regen schauernd,
in Dir geliebte Heimat eingesponnen,
in Dir vom Fieber heiß auf Abenteuer lauernd,
geliebter Spiegel, Deine Fläche malt mir
ein Leben, das von Tod und Schönheit trunken,
in Deinem Licht viel wunderbarer strahlt
die Welt, die mir um Dich im Nichts versunken.


Wenn Helga Wolfenstein-King von ihrer Liebe erzählt, ist die Zeit aufgehoben. Sie spricht von Peter Kiens Wagnis, in jeder Situation menschlich zu sein. Als sie bereits eingereiht ist in den Transport nach Auschwitz, schafft er es, sie herauszuholen. Die Mutter leidet unter der Beziehung ihrer Tochter zu dem verheirateten Peter Kien und schreibt einen Brief, der als Anmeldung zum Transport zu dritt –Mutter, Tante, Tochter – verstanden wird. Kien gibt der Geliebten Ratschläge, und ihr gelingt es, daß sie von der Liste gestrichen werden. Im Oktober 1944 stehen dann die Namen von Peter Kiens Eltern und Schwiegereltern auf den Transportlisten in den Osten. Kiens Frau Ilse schließt sich ihren Eltern an, er seinen Eltern. Seinen freiwilligen Schritt verschweigt er Helga Wolfenstein. Peter Kien schenkt ihr seine Skizzenbücher und alle seine Zeichnungen aus der Ghettozeit, mehr als 400, in einem Koffer. Zu seinem Geschenk schreibt er: „Liebes Wolferl, wir werden für einige Zeit keine Aussichten haben, meine Pläne zu verwirklichen, aber alle meine Zeichnungen gehören Dir.“ Seine Pläne: Scheidung nach dem Krieg, Heirat von Helga Wolfenstein. Helga Wolfenstein versteckt den Koffer in der Infektionsabteilung des Ghettos, wo sich die SS kaum hineintraut, und rettet die Zeichnungen über die NS-Zeit hinaus.


Letzte Begegnung: Peter Kien gibt Helga Wolfenstein 14 Briefe. Jeden Tag soll sie einen öffnen, lesen und dann vernichten, „damit diese Briefe nicht ein endgültiges Lebewohl darstellen“, wie er sagt. Helga Wolfenstein hält sich an seine Bitte.
Am 16. Oktober 1944 verläßt der Transport mit 1500 Menschen das Ghetto: darunter Peter Kien, Nummer 665/0. Mit dem leeren Zug kehrt ein letzter Brief nach Theresienstadt zurück:

„Wolferl, mein innig Geliebtes, noch sind es nur wenige Meter, die uns trennen, aber bis Du diesen Brief bekommst, werden es von Minute zu Minute mehr sein. Mein Herz ist voller Bangigkeit, wenn ich daran denke, daß ich nicht mehr Deinem lieben Gesicht nahe sein werde, wer weiß, wie lang, Wolferle. Und doch bin ich froh, daß ich Dich gehabt hab und haben werde. Du mein erstes großes süßes Glück. Ich grüße Dich aus der unbekannten Richtung, wohin wir fahren. Mein Blick wird zu Dir gerichtet sein, bis ein seliger Tag uns wieder zusammenführt. Ich küsse Dich, Liebste, Dein Terl!“


Nach der Befreiung Theresienstadt durch die Sowjets ging Helga Wolfenstein nach Prag, studierte an der Grafischen Schule in Prag und wartete auf die Rückkehr Peter Kiens. Als sie sah, wie sich die nächste Diktatur, die kommunistische, zusammenbraute, verließ sie Prag in Richtung England. Die Bilder Peter Kiens deponierte sie bei ihrer Tante in Brünn.
Im Jahre 1971 zwang das kommunistische Regime die Tante zur Herausgabe der Zeichnungen an die Gedenkstätte Terezín. 1991 bat Terezín Helga Wolfenstein-King in Florida um den käuflichen Erwerb der Bilder. Helga Wolfenstein-King wollte nicht verkaufen. Sie wollte ihre Liebe zu Peter Kien nicht zu Geld machen, um Geld ging es ihr nicht. Es ging ihr um ein Zeichen der Anerkennung ihrer Liebe. Mit ihrer Liebesgeschichte hatte sie sich einen Weg in die Zeit geschaffen –auf der Lebenswanderschaft von Exil zu Exil. Eine Rückgabe der Bilder an die rechtmäßige Eigentümerin in Florida verweigert Terezín.


Helga Wolfenstein-King ? eine Frau aus einem Jahrhundert voller Brüche, Zerstörungen und zwei aus der Shoa hinübergeretteten Worten: Gerechtigkeit und Wahrheit. Auf die hatte sie gesetzt nach dem Ende der Diktatur in der Tschechoslowakei ? in ihrem Warten auf Wunderheilung. Und auch sonst ist Warten angesagt: auf eine Buchausgabe der Gedichte und Theaterstücke Peter Kiens, auf eine umfassende Darstellung seiner Gemälde und Zeichnungen.


Autor:

Jürgen Serke


Dieser von der Redaktion des Exil-Archivs leicht überarbeitete Text wurde dem Ausstellungsheft „Liebes- und Musengeschichten. Das fragile Glück im Unglück von Verfolgung und Exil“ entnommen.


Literatur:

In dem israelischen Verlag Ha-Kibutz ha-meukhad (Der vereinigte Kibutz) ist 1996 unter dem Titel „Songs of terezin“ eine hebräische Ausgabe einiger Gedichte und Zeichnungen von Peter Kien erschienen.

Desgleichen ein Katalog zu einer Ausstellung der Bilder Peter Kiens im Jahre 1991 in Florenz: Petr Kien. I giorni contati. Firenze 1991.


Links (deutsch):

http://www.mgw.at/htm/schoener/atlantis.htm

http://www.luzernertheater.ch/spielzeit_0405/01_kaiser.html


International:

http://www.palmsprings.com/art/helgaking

http://www.webthea.com/actualites/article.php3?id_article=384

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