Robert Minder
Schriftsteller und Literaturwissenschaftler
Geb. 23. 8. 1902 in Wasselnheim (Elsaß)/ Deutsches Reich
Gest. 10. 9. 1980 in Cannes/ Frankreich
Melancholisch schreibt Robert Minder am 23. August 1974 an den Schriftstellerfreund Hermann Kesten. Wie gewöhnlich verbringt er einige Sommerwochen im Haus des väterlichen Freundes Albert Schweitzer im elsässischen Günsbach, um die Angelegenheiten der französischen Schweitzer-Freunde zu ordnen, die Nachlass-Papiere im Albert-Schweitzer-Archiv durchzusehen, immer auch auf der Suche nach Material für ein deutsches Porträt des Theologen. Die Vorbereitungen für den 100. Geburtstag Schweitzers im nächsten Jahr laufen auf Hochtouren, und die Tage sind voller Hektik und organisatorischer Geschäftigkeit. Aber es ist auch der Geburtstag Minders, der 72., und wie immer an diesem Tag wandern die Gedanken zurück, Erinnerungen verdichten sich zu Bildern, und die großen Lebensfragen drängen in den Vordergrund.
„Wie kam es, dass wir 1940/ 45 davon kamen?“, sinniert Minder, nicht zufällig gemeinsam mit Kesten. Mit dem querulatorischen Erzähler und Essayisten verbindet ihn seit fast dreißig Jahren die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, die Trauer über den Tod von Freunden und Bekannten und das Nachdenken über die deutschen Ursachen. Lebhaft steht Minder der 16. Mai 1940 vor Augen, als er Kesten in Paris kennen lernte. Der Freund Alfred Döblin, mit dem er ein Büro im französischen Informationsministerium teilte und Flugblätter gegen die Deutschen schrieb, hatte ihn auf die Straße geholt, und gemeinsam hatten sie vor dem requirierten Hôtel Continental gegenüber dem Tuilerienpark gestanden und beratschlagt, wie Kesten unbehelligt von den französischen Sicherheitsbehörden aus Paris entkommen könnte. Kesten hat Glück, knapp gelingt ihm die Flucht nach Amerika. Ebenso wie dem Ehepaar Döblin, mit dem Minder im Juni 1940 gemeinsam vor den Deutschen aus Paris geflüchtet war. Im Juli 1940, am letzten Gültigkeitstag des Ausreisevisums, „leiht“ ihnen ein französischer Präfekturbeamter das fehlende Geld für die Zugfahrt von Marseille über Perpignan nach Lissabon und ermöglicht die Flucht nach New York.
Andere wurden aufgegriffen und deportiert. Minder denkt an das Philosophen-Ehepaar Landsberg aus Bonn. Vor seiner Emigration wurde Paul Landsberg als Nachfolger Max Schelers gehandelt. In Paris hatte er nach 1936 Anschluss an die Kreise um Jean Wahl gefunden, und seine Theorie des Engagements war nicht nur für die Personalisten wichtig gewesen, die sich um den katholischen Philosophen Emmanuel Mounier und die Zeitschrift Esprit sammelten. Alles war für seine Ausreise in die USA vorbereitet, die Papiere lagen bereit, aber Landsberg wollte in der Nähe der Anstalt bleiben, in der seine Frau Madeleine (Magdalena) nach dem psychischen Schock der Internierung in Gurs behandelt wurde. Er wurde denunziert und nach Oranienburg deportiert. Die Witwe des Freiburger Kunsthistorikers Ernst Polaczek, eines engen Mitarbeiters Georg Dehios, wurde in Auschwitz vergast. Minder hatte Friederike Polaczek ein Versteck in Grenoble besorgen können, aber sie wurde bei einer Razzia gefunden.
Immer häufiger wendet sich in den siebziger Jahren der Blick des Germanisten zurück. In die Trauer um die Freunde mischen sich Fragen nach der eigenen Leistung. Eine beachtliche Karriere hat der französische Germanist am Collège de France in den 60er- und 70er-Jahren in der Bundesrepublik gemacht. Seine Essays werden als Kabinettstücke deutscher Prosa und kritische Anmerkungen zu deutschen Befindlichkeiten gefeiert. Er ist ein deutscher „Bestseller-Autor“ geworden. Die 10.000 Exemplare des ersten Essaybandes Kultur und Literatur in Deutschland und Frankreich (1962) waren schon nach vier Monaten vergriffen. „Man muss das als Deutscher lesen. Wer dem ausweicht, setzt sich ins Unrecht – und nur wer annimmt, was uns da ins Stammbuch geschrieben wird, kann und darf einiges korrigieren“, hatte wohlwollend die Frankfurter Allgemeine Zeitung konstatiert.
Viel zitiert wird insbesondere der Essay zum Bild des Pfarrhauses in der deutschen Literatur, in dem Minder die Tiefenwirkung der „protestantischen Sozialethik“ und ihre „nestversponnene Innerlichkeit“ geißelt. Ein Klassiker ist auch die Sadomasochismus-Analyse im Essay zur Kadettenhaus-Literatur geworden, die direkt in die jüngste deutsche Vergangenheit führt und Literatur und Politik in ungewohnt deutlicher Weise zusammenbringt. Dass Minders Kritik sich nicht gegen die deutsche Innerlichkeit als solche, sondern ihre „kleinbürgerlich-pervertierte Schrumpfform“ richtet, die sich „ohne den leisesten Widerstand einer massiv hereinmarschierenden Pseudo-Gemeinschaft“ ausliefert, ist im Eifer der Diskussionen allerdings übersehen worden.
Als der zweite Essayband Dichter in der Gesellschaft (1966) erscheint, ist Minder den Lesern der deutschen Feuilletons kein Unbekannter mehr. Seine Essays sind in den großen Zeitungen vorabgedruckt worden und ihr Autor hat zahlreiche Preise und andere Ehrungen erhalten. Der Band überrascht mit zarten Porträts Jean Pauls und Johann Peter Hebels, die eigentliche Sensation aber ist die sozioliterarische Analyse der Sprache von Meßkirch gewesen, mit der Minders Heideggerkritik ihren Höhepunkt erreicht. Der Text greift in weite kulturhistorische Horizonte aus und bleibt doch immer dicht am Detail, körnig-konkret schöpft Minders Sprache ihre Möglichkeiten aus, wenn sie Heidegger mit harten parataktischen Fügungen zu Leibe rückt.
Dann folgen verschiedene Neu-Zusammenstellungen aus den Essaybänden. Mit der Sammlung Hölderlin unter den Deutschen in der Edition Suhrkamp ist Minder 1968 Suhrkamp-Autor geworden. Ein dritter Essayband erscheint 1971 unter dem Hölderlin-Titel Wozu Literatur in der Bibliothek Suhrkamp, und 1974 bringt Unseld in seiner Wissenschaftsreihe Minders Doktorarbeit über Karl Philipp Moritz aus dem Jahr 1936 neu heraus. Aber eine „richtige Monographie“ hat der französische Germanist seit Allemagnes et Allemands (1948) nicht mehr geschrieben.
Von dem groß angelegten französischen Deutschlandprojekt Allemagnes et Allemands, das sich vorgenommen hat, in drei Bänden die Regionalgeschichten der deutschen Vorstellungswelt zu erzählen, ist 1948 nur der erste Band über das Rheinland erschienen. Immer wieder ändert Minder die Konzeption und sitzt in den Semesterferien an dem Text, der sein Lebenswerk werden soll. Das Projekt hat er einer faszinierenden, aber schwer durchzuhaltenden Doppelperspektivik verschrieben. Es soll nicht nur eine Art Einführungslexikon in eine umfassende Deutschlandkunde sein, sondern gleichzeitig ein kritisches Inventar der zentralen deutschen Mythen. Ausgehend von den Fragen, welche Bilder die Deutschen von sich und ihrer Geschichte im Kopf haben und welche Rolle regionale Identitäten bei der Herausbildung der „nationalen Geschichtsoptik“ spielten, hätte das Buch auch methodisch innovativ sein können.
Mit den Jahren aber ist das Material ins Unübersehbare angewachsen, und es stellt sich, je länger je mehr, die Gewissheit ein, dass das französische Projekt wohl ein Torso bleiben wird. Immer wieder fragt sich der Germanist, wie man ein solches Monumentalprogramm hätte umsetzen können. Die Abschiedsvorlesung am Collège de France 1973 wird zu einer Mea culpa. Natürlich erschwerte die Teilung Deutschlands die Realisierung eines solchen regionalistischen Projekts, natürlich wandelte sich das Forschungsobjekt dem Forscher unter der Hand und die Methoden der 40er-Jahre müssen sich anfragen lassen, aber hätte nicht eine interdisziplinäre Forschungsgruppe, ausgestattet mit einem großzügigen Etat, die Aufgabe lösen können? Eine Art Deutschland-Labor am Collège de France?
Autorin:
Anne Kwaschik (Historikerin, Berlin)
Literatur:
Albrecht Betz / Richard Faber (Hrsg.):
Kultur, Literatur und Wissenschaft
in Deutschland und Frankreich
Zum 100. Geburtstag von Robert Minder
Verlag Königshausen und Neumann,Würzburg 2004
ISBN 3-8260-2925-9
Robert Minder:
Wozu Literatur?
Reden und Essays
Bibliothek Suhrkamp 2002
ISBN 3-518-01275-4
Links (deutsch):
http://www.freitag.de/2002/51/02511403.php
http://www.koenigshausen-neumann.de/buecher/01_05/betz.htm
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