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Mehring, Walter

H.A.M. 0

Walter Mehring
Schriftsteller, Kabarettist


Geb. 29.4.1896 in Berlin
Gest. 5.10.1981 in Zürich/ Schweiz


Die ganze Heimat
Und das bißchen Vaterland
Die trägt der Emigrant
Von Mensch zu Mensch – von Ort zu Ort
An seinen Sohl’n, in seinem Sacktuch mit sich fort.

(Walter Mehring, Der Emigrantenchoral)*


Nun ist es aus«, sagt Walter Mehring, »es geht zu Ende. Ich kann mich kaum noch bewegen. Eine halbe Stunde Spaziergang am Tag. Aber weiter komme ich nicht mehr.« Ein Mann zwischen Müdigkeit und Krankheit. Mit vereiterter Lunge kam er im Januar 1976 ins Krankenhaus. Die Operation überlebte er. Aber während seines Krankenhausaufenthaltes verlor er sein letztes großes Manuskript, mit dem er noch einmal zeigen wollte, welch einzigartigen Poeten dieses Land nach 1945 so einfach hat »links« liegen lassen.


Der mir da im alten verknitterten Anzug gegenübersitzt, in sich zusammengesunken, mit fahlem Gesicht, die Lippen abgewinkelt, die Augen hinter der für den Kopf zu groß gewordenen Hornbrille, ist einer der wenigen großen Satiriker, die Deutschland in diesem Jahrhundert hervorgebracht hat: Walter Mehring, gebürtiger Berliner, Jude, den die Nazis vergasen wollten. Er entkam, wurde im Exil amerikanischer Staatsbürger, kehrte nach Kriegsende zurück und ließ sich dann in der Schweiz nieder. Seine Gedichte, Lieder, Balladen, Romane und Theaterstücke fielen im Nachkriegsdeutschland zwischen die Stühle. Dem Westen waren sie zu links, dem Osten zu linksbürgerlich. Was hierzulande bekannt blieb, verband sich nicht mehr mit seinem Namen; wie dieses Chanson aus dem Jahre 1920:


Wir haben die ganze Welt gesehn
— Die Welt war überall rund! -Um alle paar Monat vor Anker zu
gehn
Bei einem Mädchenmund! Wir sahn eine Mutter in
schneeigem Haar,
— Die verkuppelte uns ihr Jöhr; Wir fraßen pfundweis den Kaviar Direkt an der Quelle vom Stör! Wir sahen Seeanemonen und
Qualln, Die schmückten Gebein und
Gewand
Eines Matrosen, der war gefalln Für irgendein Vaterland.
— Die Welt ist rund und klein! Was kann sie dem Seemann noch
sein?
In Hamburg an der Elbe Gleich hinter dem Ozean Ein Mädchen von Sankt Pauli Von Sankt Pauli und von der
Reeperbahn Ein Mädchen, das bei Tag und bei
Nacht
Bei jedem Kuß an uns nur gedacht Ein Mädchen von Sankt Pauli und
von der Reeperbahn Wir haben die ganze Welt bereist:
– La Plata – le Languedoc!
Wir haben mit Kannibalen gespeist
– Und überall gab’s einen Grog! Uns folgte der Möwen
Hungergekreisch Wie die Huren der Waterkant
– Am Meeresbusen zum drallen Fleisch,
Da gingen wir an Land! Wir haben den »Holger Danske« gesehn
– Und einen Völkerstamm
Zu Tausenden zugrunde gehn — Die andern standen stramm! Die Welt hat Leid und Freud! Was haben wir Seemannsleut? In Hamburg an der Elbe Gleich hinter dem Ozean Ein Mädchen von Sankt Pauli und
von der Reeperbahn Wir haben die ganze Welt beglotzt: Paris und den Vogel Roch!
– Wir haben die Seele uns ausgekotzt
Bei Australien Da liegt sie noch! Wir sahen unsern Kapitän Verfaulen im Lazarett! Wir sahn eine Grotte mit lauter Feen
– Und ein frisch bezogenes Bett! Wir sahen den toten Menelik Hoch zu Krokodil!
Wir sahen überall den Krieg
– Und Wilhelm im Exil! Die Welt ist zum Bespein! Was kann noch Ekleres sein? In Hamburg an der Elbe Gleich hinter dem Ozean Ein Mädchen von Sankt Pauli Nahm sich einen Spießer zum
Mann…
Was kann für uns da noch sein? Ein Mädchen, das bei Tag und bei
Nacht Bei jedem Kusse an uns nur
gedacht
Unser Mädchen von Sankt Pauli Unser Mädchen von der
Reeperbahn…


Brett als Schreibbord. Darauf Tablettenschachteln, ein Dutzend Zigarettenpackungen für den Kettenraucher, schmutzige Wäsche auf einem großen alten Koffer. So lebt er, der Freund des Satirikers Kurt Tucholsky, des Physikers Albert Einstein, des Schriftstellers Alfred Döblin, des Journalisten Carl von Ossietzky, der Dichterin Else Lasker-Schüler des Romanciers Ilja Ehrenburg.
Und wovon lebt er? Vom tröpfelnden Erlös seiner Bücher? »Nein, von meinen Schulden«, sagt er. Und von einer Entschädigungsrente als politisch Verfolgter. Einen Ehrensold aus den Bonner Fonds für notleidende Künstler lehnte er ab. Almosen hat er zeit seines Lebens nicht angenommen. Drei Jahrzehnte hat er an einem neuen Roman geschrieben, einem Buch über das Leben im Exil. 800 Seiten in Handschrift. Sie sollten im Bertelsmann-Verlag erscheinen. Anfang 1976 gingen sie verloren. »Die schlimmste Katastrophe meines Lebens«, sagt er, der sein Leben lang in Katastrophen gelebt hat. Irgendwo zwischen München und Zürich sind die 800 Seiten verschwunden, irgendwann im Januar 1976, als ihn die vereiterte Lunge mit Erstickungsanfällen plagte. Damals war er gerade aus dem Münchner Carlton-Hotel gekommen, seiner zweiten Bleibe, wenn er Zürich einmal verläßt. In seinem Zürcher Hotelzimmer steht ein schwarzer Koffer, der ihm aus München nachgeschickt wurde. Ein Koffer, der nicht ihm gehört. Sein eigener ist verschollen.


Autor:

Jürgen Serke


Hauptwerke:

Das Ketzerbrevier (Kabarettexte, 1921), Algier (Novellen, 1927), Der Kaufmann von Berlin (Dr., 1929), Die Gedichte, Lieder und Chansons (1929), Die verlorene Bibliothek. Auto-biogr. einer Kultur (engl. 1951, dt. 1958), Verrufene Malerei (Essays, 1958), Berlin-Dada (Erinnerungen, 1959), Neues Ketzerbrevier (Balladen und Songs, 1962).

Quelle:

*) hier entnommen aus:
Walter Mehring: Neues Katzenbrevier. Balladen und Songs Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München 1966 © 1962 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln-Berlin, S. 107f.


Links (deutsch):


International:

http://www.recmusic.org/lieder/m/mehring

http://www.lib.uiowa.edu/dada/mehring.html

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