Marcel Reich-Ranicki (Warschauer Autoren-Pseudonym: Wiktor Hart)
Literaturkritiker, Schriftsteller und Publizist
Geb. 2.6.1920 in Wloclawek/ Polen
Gest. 18.09. 2013 in Frankfurt/ Main
Ich glaube, daß mir ein großes Unrecht antun würde, wer meine berufliche Leistung lediglich aufgrund des „Literarischen Quartetts“ beurteilte. Was ich zur Literatur zu sagen hatte und habe, ist nach wie vor in meinen Aufsätzen für Zeitungen und Zeitschriften zu finden und in meinen Büchern. Doch was ich in meinem langen Kritikerleben wollte und was mir nie ganz gelungen ist, was ich nie ganz geschafft habe – die breite öffentliche Wirkung auf das Publikum -, das hat mir erst das Fernsehen ermöglicht.
(Marcel Reich-Ranicki)*
Marcel Reich, drittes Kind von Helena Reich-Ranicki, einer deutschen Jüdin und David Reich, einem polnischen Juden, lebt mit seinen Eltern in seiner Geburtsstadt, bis der geschäftliche Ruin des Vaters die Familie dazu zwingt, den Wohnsitz nach Berlin zu verlegen. Als Jude und polnischer Staatsangehöriger kann er in Nazi-Deutschland zwar 1938 noch sein Abitur machen, sein Antrag auf Einschreibung an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität wird jedoch aufgrund seiner jüdische Abstammung abgelehnt.
Er beginnt zunächst eine kaufmännische Lehre in der Exportfirma von Juan Casparius in Charlottenburg, wird jedoch schon am 28. Oktober 1938 festgenommen und nach Warschau deportiert. Ab November 1940 pferchen die Deutschen mehr als 400 000 Juden hinter der 18 km langen und drei m hohen Mauer des Warschauer Ghettos zusammen. Marcel Reich (wie er damals noch heißt) wird vom sogenannten Judenrat als Übersetzer beschäftigt. Im Ghetto lernt er Teofila Langnas kennen. Beide heiraten am 22. Juli 1942. An diesem Tag beginnen die deutschen Besatzer mit der Räumung des Warschauer Ghettos. beginnen. Das Ehepaaar kann 1943 in den Warschauer Untergrund fliehen. Reichs Eltern und sein Bruder werden von den Nationalsozialisten ermordet.
Nach seiner Befreiung durch die Sowjetische Armee tritt er der Kommunistischen Partei Polens bei, arbeitet in der Polnischen Militärkommission in Berlin und im Polnischen Außenministerium. In den Jahren 1948 und 1949 vertritt Marcel Reich-Ranicki (wie er sich nun nennt) als Konsul die Republik Polen in London und arbeitet gleichzeitig im polnischen Geheimdienst. Im Herbst 1949 bittet er aus politischen Gründen um seine Abberufung und kehrt in die polnische Hauptstadt zurück. Hier wird er umgehend sowohl aus dem Geheimdienst als auch aus dem Auswärtigen Dienst entlassen, aus der Kommunistischen Partei – mit der offiziellen Begründung „ideologische Entfremdung „- ausgeschlossen, verhaftet und für einige Wochen in einer Einzelzelle gefangengehalten und für einige Wochen in einer Einzelzelle inhaftiert. Anna Seghers Roman Das siebte Kreuz läßt in dem vormalig politisch Aktiven den Entschluß reifen, sich nach seiner Freilassung mit Literatur zu befassen – nicht mehr nur als enthusiastischer Leser, der er schon seit Berliner Gymnasialzeiten ist, sondern auch und vor allem beruflich.
Nach seiner Haftentlassung wendet er sich ganz der Literatur zu und arbeitet – immer wieder unterbrochen von Berufs- und Publikationsverboten, in einem Verlag, schreibt für Zeitungen und den Rundfunk und übersetzt deutsche Literatur ins Polnische. Dem späteren Literatur-Nobelpreisträger Heinrich Böll verhilft ihm durch eine Bürgschaft zu einem Visum, und so kann Marcel Reich-Ranicki Ende der fünfziger Jahre mit seiner Familie in den Westen übersiedeln. Völlig mittelos steht er in der Bundesrepublik vor dem Nichts – sein einziges Kapital die vorzüglichen Kenntnisse der deutschen Literatur, seine publizistische Begabung sowie Kontakte und Freundschaften zu westdeutschen Autoren wie z.B. Siegfried Lenz, der für ihn den Weg zu Rundfunksendern und Zeitungen ebnet.
Reich-Ranickis Kritiken in der Welt und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sowie seine Teilnahme an Tagungen der „Gruppe 47“ (jenem Schriftstellertreffen, zu denen Hans Werner Richter zwischen 1947 und 1977 einlädt) führen dazu, daß ihn die Die Zeit ab Januar 1960 als ständigen Literaturkritiker einstellt. Frei von redaktionellen Belastungen schreibt er vierzehn Jahre lang für das Hamburger Wochenblatt und wird in sehr bald zu der literaturkritischen Instanz der Bundesrepublik.
1973 übernimmt er die Leitung des Literaturteils der FAZ, die unter seiner Ägide zur buch- und literaturfreundlichsten Zeitung Deutschlands wird. Ende der 80er Jahre gibt Reich-Ranicki die Leitung des Literaturteils ab, bleibt aber in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Herausgeber und Redakteur der von ihm 1974 ins Leben gerufenen Frankfurter Anthologie und veröffentlicht weiterhin seine Literaturkritiken, schreibt für den SPIEGEL und immer wieder auch für seinen ehemaligen Arbeitgeber, die Hamburger Wochenzeitung Die Zeit.
Seit 1968 und 1969 Marcel Reich-Ranicki lehrt er an amerikanischen Universitäten, hat von 1971 bis 1975 eine Gastprofessur in Stockholm und Uppsala inne und ist seit 1974 Honorarprofessor an der Universität Tübingen. 1990 erhält Reich-Ranicki die Heinrich-Heine-Gastprofessur an der Universität Düsseldorf und 1991 die Heinrich-Hertz-Gastprofessur der Universität Karlsruhe.
Am 25. März 1988 wird mit der ersten Folge des Literarischen Quartetts“ im ZDF eine Sendung ausgestrahlt, in der ausschließlich über Bücher gesprochen wird. Neben Hellmuth Karasek und Sigrid Löffler sind anfangs noch Jürgen Busche und, in seiner Nachfolge, Klara Obermüller ständige Mitglieder des Quartetts. Ab 1990 nehmen wechselnde Gäste, darunter Kritiker oder Verleger, aber auch Schriftsteller, an der literarischen Fernseh-Runde teil.
„Da stets von fünf Büchern die Rede ist, stehen für jedes im Durchschnitt vierzehn bis fünfzehn Minuten zur Verfügung – und damit für jeden der vier Teilnehmer etwa dreieinhalb Minuten pro Titel…Kurz und gut: Gibt es im ‚Quartett‘ ordentliche Analysen literarischer Werke? Nein, niemals. Wird hier vereinfacht? Unentwegt. Ist das Ergebnis oberflächlich? Es ist sogar sehr oberflächlich.“
Quelle: Marcel Reich-Ranicki, Mein Leben, S. 538
Nach 13 Jahren, 77 Sendungen und 385 besprochenen Büchern endet mit der Sendung vom 14. Dezember 2001 die Ära des Literarischen Quartetts. Danach sendet das ZDF noch neun Folgen mit Marcel Reich-Ranicki als Solist. Ende 2002 verabschiedet sich der deutsche Literaturpapst endgültig von seinem Fernsehpublikum.
Im Februar 2007 wird (der bereits achtfache Ehrendoktor) Marcel Reich-Ranicki mit der Ehrendoktorwürde der Berliner Humboldt-Universität ausgezeichnet. 1938 hatte die „Vorgänger“-Hochschule dem Juden Marcel Reich die Immatrikulation verweigert. Damit bekenne sich das Haus, als Rechtsnachfolger der damaligen Friedrich-Wilhelms-Universität, zu ihrer historischen Verantwortung und Schuld, so Universitätspräsident Christoph Markschies (zitiert nach: http://science.orf.at/science/news/146614).
Quelle:
*) hier zitiert aus:
Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben
Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 1999
3. Aufl., ISBN 3-421-05149-6, S. 539
Links (deutsch):
http://www.das-erste.de/kultur/beitraege/00512
http://thing.at/ejournal/Kritik/czernin/index.html
http://www.suhrkamp.de/autoren/reich-ranicki/reich-ranicki_bio.htm
http://www.tour-literatur.de/Links/links_autoren/reichranicki_links.htm
http://www.dieterwunderlich.de/Reich_Ranicki_leben.htm
http://www.unicum.de/uni/frageb/fb-ranic.htm
http://www.mdr.de/mdr-figaro/journal/859547.html
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=7025&ausgabe=200405
http://www2.welt.de/data/2004/03/09/248684.html
http://www.inf.ethz.ch/personal/michahel/RefServ/ranicki.htm
http://www.taz.de/pt/2005/06/10/a0297.nf/text
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