Schriftsteller
Geb. 20. 5. 1902 in Dresden
„Wir sind die Letzten.
Fragt uns aus.
Wir sind zuständig.
Wir tragen den Zettelkasten
Mit den Steckbriefen unserer Freunde
wie einen Bauchladen vor uns her.
Forschungsinstitute bewerben sich
Um Wäscherechnungen Verschollener,
Museen bewahren die Stichworte unserer Agonie
wie Reliquien unter Glas auf.
Wir, die wir unsere Zeit vertrödelten,
aus begreiflichen Gründen,
sind zu Trödlern des Unbegreiflichen geworden.
Unser Schicksal steht unter Denkmalschutz.
Unser bester Kunde ist das
schlechte Gewissen der Nachwelt.
Greift zu, bedient euch.
Wir sind die Letzten.
Fragt uns aus.
Wir sind zuständig.“ *1)
Jahren gehört auch die Dichterin Else Lasker-Schüler.
1933 flieht Hans Sahl vor den Nationalsozialisten über Prag und Zürich nach Paris, wo er gefangen genommen und in Südfrankreich im Lager Le Ruchard interniert wird. Es gelingt ihm die Flucht nach Marseille und – dank Varian Frys Rettungs-komitee („Emergency Rescue Committee“) – über Lissabon in die Vereinigten Staaten. Hans Sahl verarbeitet diese Erfahrungen später in seinem auto-biografischen Roman „Die Wenigen und die Vielen“ (1959) und setzt damit Varian Fry und seinem Hilfskomitee zugleich ein literarisches Denkmal.
„Sie müssen sich vorstellen: Die Grenzen waren gesperrt, man saß in der Falle. Jeden Augenblick konnte man von neuem verhaftet werden, das Leben war zu Ende – und nun steht da plötzlich ein junger Amerikaner in Hemdsärmeln, stopft dir die Taschen mit Geld voll, legt den Arm um dich und zischelt mit schlecht gespielter Verschwörungsmiene: „Oh, es gibt Wege, Sie heraus-zubringen“, während dir, verdammt noch mal, die Tränen über die Backen laufen, ja, scheußliche, richtige, dicke Tränen, und der Kerl, der gemeine, übrigens ein ehemaliger Harvard-Student, nimmt nun auch wirklich sein seidenes Taschentuch aus der Jacke, die über dem Stuhl hängt, und sagt: „Hier, nehmen Sie. Es ist nicht ganz sauber. Sie müssen schon entschuldigen.“*2)
„Sahl bedurfte nicht der Fiktion, um die Groteske und das Grauen seines Jahrhunderts in Sprache zu bannen. Er brauchte nur zu erzählen, was ihm widerfahren, wer ihm unter welchen Umständen begegnet war, wer ihn beglückt und wer ihn enttäuscht hatte, und schon entstand der ebenso facetten- wie aufschlussreiche «Roman einer Zeit» (so hat er das Buch «Die Wenigen und die Vielen» genannt).“*3)
„Das Exil im Exil“ überschreibt Hans Sahl den zweiten Teil seiner Erinnerungen und rekapituliert darin auch und vor allem die Zeit der doppelten Isolation, „die jene erwartete, die sich in Widerspruch setzten zur herrschenden Emigranten-Meinung und die die Winkelzüge der moskaufreundlichen Organisationen nicht mitmachten. Die eben nicht bereit waren, im Kampf gegen Hitler den stalinistischen Terror geflissentlich zu übersehen oder gar: ihn gutzuheißen“ (FR v. 28.April 1993). Sahls kritische Position teilen allerdings nur wenige andere Emigranten. Mit ihnen, darunter Walter Mehring, Alfred Döblin, Josef Roth, Klaus Mann, Bruno Frank und Hermann Kesten, gründet er im Pariser Exil einen antistalinistischen Schriftstellerverband.
Nach Kriegsende bleibt Hans Sahl vorerst in den Vereinigten Staaten, arbeitet als Kulturkorrespondent u.a. für die Süd-deutsche Zeitung, die Neue Zürcher Zeitung und zahlreiche andere Publikationen und übersetzt Theaterstücke von Thornton Wilder, Arthur Miller, Tennessee Williams und John Osborne. Sein Versuch der Heimischwerdung im Deutschland der frühen 50er Jahre wird kaum wahrgenommen, und nicht zuletzt die Gruppe 47 begegnet ihm mit kühler Reserviertheit. Hans Sahl verlässt 1957 Deutschland daraufhin zum zweitenmal und geht wieder in die USA.
Erst im Alter von 87 Jahren, 1989, kehrt der Lyriker, Erzähler, Dramatiker, Chronist, Kritiker und Übersetzer Hans Sahl endgültig nach Deutschland zurück und lässt sich in Tübingen nieder. In diesen letzten Lebensjahren entsteht „Der Tod des Akrobaten“, eine Sammlung von Geschichten, Parabeln und Grotesken über die Nöte des Exils. Und noch Anfang der neunziger Jahre beteiligt sich der hochbetagte Sahl an einer bundesweiten Aktion der in Wuppertal ansässigen Else Lasker-Schüler-Gesellschaft gegen Rassismus und Antisemitismus:
„Sahl rief uns vor dem Start der „Dichterleslesungen in Asylbewerberheimen“ an, mit denen wir 1992 gegen die Brandanschläge protestieren und die unbeteiligten, desinteressierten Bürger in die Heime holen wollten. Er sei sterbenskrank und wisse nicht, wie lange er noch zu leben habe. Deshalb wolle er unbedingt bei ‚dieser besten Aktion, von der ich seit langem in Deutschland gehört habe‘ mitmachen, ‚ehe es zu spät ist‘. *4)
Der letzte große deutsche Re-Migrant und Ehrenmitglied der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft, den Die Zeit einen „literarischen Brennspiegelschleifer“ nannte, stirbt kurz vor seinem 91. Geburtstag in seiner Wahlheimat Tübingen.
*1)Hans Sahl: „Wir sind die Letzten. Fragt uns aus“(1973)
*2) zitiert aus: Varian Fry: „Auslieferung auf Verlangen – Die Rettung deutscher Emigranten in Marseille 1940/41, Carl Hanser-Verlag München Wien 1986, ISBN 3-446-13791-2, S. 301/302
*3) zitiert aus: Matthias Wegner: „Chronist und Moralist – Zum 100. Geburtstag des Schriftstellers Hans Sahl“ ,
NZZ vom 18. 5. 2002
*4) zitiert aus: Hajo Jahn, ELS-Info 37, 3. Quartal 1999
CD:
David Dambitsch: Stimmen der Geretteten – Berichte von Überlebenden der Shoa
3 CDs, DAV, ISBN: 3898132137
Links (deutsch):
http://www.dla-marbach.de/kallias/hyperkuss/s-7.html
http://www.frankfurter-hefte.de/gespraech/gespraech_02_12b.html
http://www.kuenstlerkolonie-berlin.de/bewohner/sahl.htm
http://www.kuenstlerkolonie-berlin.de/bewohner/sahl2.htm
http://www.bsz-bw.de/depot/media/3400000/3421000/3421308/97_0144.html
http://members.chello.at/nikolaus.werle/Sahl.htm
http://www.dreigroschenheft.de/archiv/texte/96-04-01-artikel.htm
http://www.gdw-berlin.de/ang/film/spiel/film-sahl-d.htm
http://www.nzz.ch/2002/05/18/fe/page-article837OK.html
http://www.randomhouse.de/author/author.jsp?per=74339
http://www.dtv.de/_google/titel/titel11936.htm
http://www.verlagdrkovac.de/3-86064-883-7.htm
http://www.parapluie.de/archiv/indien/cahier
http://www.stimmhaus.de/stimmig-hoerbuch-lauschen_dambitsch-stimmen-der-geretteten.html
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