Vladislav Vancura
Arzt und Schriftsteller
Geb. 23.6.1891 in Háj bei Opava/ Österreich-Ungarn
Gest. 1.6.1942 in Prag (unter deutscher Besatzung)
Vladislav Vancura „war ein meisterhafter Stilist und – wenn man dies über Literatur sagen kann – der Erfinder eines neuen, ganz persönlichen Stils, der schlichtweg unnachahmlich ist. Er war einmalig und einzigartig … Dies war unser größter Autor nicht nur in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, sondern in der tschechischen Literatur überhaupt. Zumindest einer der wenigen ganz Großen“, schreibt Jaroslav Seifert, der 1984 den Nobelpreis für Literatur bekam.
Geboren als Sohn eines Gutsverwalters, verbrachte Vladislav Vancura die Kindheit in Prag, Davle und Benešov. Nach dem Gymnasium besuchte er die Kunstgewerbeschule. Er wollte Maler werden, doch nach zwei Jahren wechselte er zur Universität und studierte Medizin. 1921 ließ er sich als praktischer Arzt in Zbraslav nieder. Nach einigen Jahren widmete er sich ganz dem literarischen Schaffen.
Vancura war Mitglied der kommunistischen Partei der Tschechoslowakei seit ihrer Gründung 1921, trennte sich jedoch 1929 von ihr, als sie auf den stalinistischen Moskauer Kurs eingeschworen wurde. Während der nazi-deutschen Okkupation gehörte er einer Widerstandgruppe tschechischer Intellektueller an. Nach dem Attentat auf den Stellvertretenden Reichsprotektor Heydrich am 26. Mai 1942 wurde das Land mit Vergeltungsterror überzogen. Vancura und andere Intellektuelle wurden verhaftet und ohne Gerichtsverfahren auf dem Prager Militärschießplatz Kobylisy erschossen. Die Hinrichtung, sofort im Rundfunk und in der Presse kundgegeben, verbreitete Furcht und Schrecken. Sie traf die kulturelle Elite und das Nationalgefühl der Tschechen. Vladislav Vancura, als überragender Schriftsteller und integre Persönlichkeit allseits geschätzt, wurde zu einer Ikone des tschechischen Selbstverständnisses.
Vancura debütierte 1923 mit dem Erzählungsband Der Amazonastrom. 1924 veröffentlichte er den Erzählungsband Der Lange, der Breite, der Scharfsichtige. Im selben Jahr erzielte er den Durchbruch mit dem Roman Der Bäcker Jan Marhoul (deutsch zuerst 1937). 1925 folgte der Antikriegsroman Äcker und Schlachtfelder, 1926 der Roman Ein launischer Sommer(deutsch 1971), mit ironisch gefärbten Bildern von der Tristesse und den Sinnenfreuden in einer böhmischen Kleinstadt. Nach den Romanen Das jüngste Gericht (1929) und Das Blutgericht oder Ein Sprichwort (1930) erschien 1931 der Roman Markéta Lazarová (deutsch 1937 Die Räuberbraut Margarete Lazar, später in anderen Übersetzungen Marketa und Miklas und Räuberballade). Hier griff Vancura auf die Geschichte seiner Ahnen, eines Adelsgeschlechtes, zurück, um vom Leben und den erotischen Leidenschaften in der Raubritterzeit zu erzählen. 1932 erschienen der Erzählungsband Der Pfeilbogen der Königin Dorothea und der Roman Die Flucht nach Budapest, die Geschichte einer Liebe, die sich gegen Konventionen behaupten muß. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg spielt der satirische Roman Das Ende der alten Zeiten (1934, deutsch 1935, 1966). Der Roman Drei Ströme (1936) verfolgt das symbolisch überhöhte Schicksal eines armen tschechischen Studenten zur Zeit des Ersten Weltkriegs und der russischen Revolution. Von der geplanten Romantrilogie Pferde und Wagen wurde nur der erste Teil, Die Familie Horvat (1938), vollendet. 1939/1940 erschienen die beiden ersten Teile der Bilder aus der Geschichte des tschechischen Volkes (der unvollendete dritte Teil kam posthum 1948 heraus). Auf wissenschaftliche Arbeiten und das eigene Studium von Chroniken gestützt, wagte Vancura in den Jahren größter nationaler Existenznot den monumentalen, Hoffnung begründenden Rückblick auf das Herkommen seiner Nation.
Weniger bedeutend sind Vancuras Dramen: Lehrer und Schüler (1927), Das kranke Mädchen (1928), Der Alchimist (1932), Der See Ukereve (1935) und Josefine (posthum 1950).
Genannt sei das Kinderbuch Kubula und Kuba Kubikula (1931, deutsch 1971; 1963 und 1965 unter dem Titel Peterpetz und Peter Petermichel). Ausgewählte Erzählungen in deutscher Übersetzung enthält der Band Dirnen, Gauner, Advokaten (1975).
Der Bäcker Jan Marhoul begründete Vancuras Ruhm und ist bis heute populär. In dem Roman treten die Eigenschaften seiner Prosa aufs eindrucksvollste hervor. Die Sprache ist ausdruckstark und vom ungewöhnlichen Reichtum. Die lyrischen Elemente durchdringen oder beherrschen das Epische. Das Erzählte wirkt spannend, aber weniger durch den eigentlichen Fortgang der Geschichte als vielmehr durch die Bilder, die davon entworfen werden und sich zu einer Legende zusammenfügen.
In den Bildern scheint das Wesentlichste der Handlung aufgehoben: das unabänderliche Scheitern eines Lebens, das dennoch voller Zuversicht gelebt, ja genossen wird. Erzählt wird von einem Menschen, der im alltäglichen Leben verwurzelt ist, aber doch aus einer anderen Welt oder vielleicht von der metaphysischen Kehrseite der unseren zu stammen scheint. Die literarische Verwandtschaft ist unverkennbar: Fürst Myschkin, der Held in Dostojewskis Roman Der Idiot. Myschkin ist ein scheinbar Irrer, der an der Welt leidet und doch als Gottesnarr über sie erhaben ist. Doch während seine Demut herausgestellt, sein Leiden vom Autor geradezu zelebriert wird, kommt Jan Marhoul als bodenständiger Handwerker daher, als Frohnatur und herzensguter Kerl, der, so könnte es scheinen, nur an den Verhältnissen zugrunde geht.
Doch ebenso sehr richtet er sich selbst zugrunde, und deshalb greift eine sozialkritische Deutung zu kurz. Mit seiner grenzenlosen, unerschütterlichen Güte kommt Marhoul nicht zu Unrecht in den Ruf der Naivität. Würde er sonst jedem Bedürftigen helfen? Und auf Schwindler hereinfallen, die Gläubiger gegen sich aufbringen, sich und seine Familie in den Ruin stürzen?
Aber es hat eine tiefere Bewandtnis mit seiner Güte, die so weltfremd ist und doch ganz den angenehmen Seiten des Daseins zugewandt bleibt. Das wiederholte Scheitern ficht ihn nicht an, immer beginnt er von vorn und bleibt, was er ist: ein leibhaftiges Gegenbild zu der Welt, in der allzu oft Macht, Geld und Gemeinheit den Ton angeben. Ein Urgestein von einem Menschen, voll archaischer Lebenskraft und romantischer Träumerei und insofern ganz anders als Myschkin. Er ist ein Gottesnarr mit böhmischem Naturell.
Autor:
Eckhard Thiele
Dieser Beitrag wurde dem Exil-Archiv freundlicherweise von der Initiative „Tschechische Bibliothek“ zur Verfügung gestellt. Die „Tschechische Bibliothek“ ist eine Initiative der Robert Bosch-Stiftung, einer der großen unternehmensverbundenen Stiftungen in Deutschland, die sich unter anderem der Völkerverständigung widmet. Mit der „Tschechischen Bibliothek“ möchte die Stiftung einen Beitrag zur deutsch-tschechischen Verständigung leisten. Zusätzlich zur Bibliothek wird eine Reihe begleitender Veranstaltungen gefördert wie eine Konferenz der Literatur-Übersetzer aus dem Tschechischen im Januar 2002, die deutsch-tschechische Übersetzerwerkstatt in Straelen im November 2003 oder die „Prager Nacht“, eine Entdeckungsfahrt durch die tschechische Literatur in zahlreichen deutschen Städten 2002-2005.
Literatur:
Die Tschechische Bibliothek in 33 Bänden
Herausgegeben von:
Hans Dieter Zimmermann, Eckhard Thiele,
Peter Demetz, Jiri Grusa und Peter Kosta.
Vladislav Vancura
Der Bäcker Jan Marhoul
Roman. Übersetzung: Peter Pont
Essay von Jaroslav Seifert
Nachwort: Eckhard Thiele
DVA, Stuttgart / München 2000
ISBN 3-421-05237-9
Leseprobe:
„Auf dem Heimweg in die Stadt sah er sich schon als Müller. Er schritt vorwärts und ließ die Köstlichkeit seiner Vorstellungen über die Straße hin aus sich herausrinnen, wie aus einem Sack, der einen Riß bekommen hat, Mehl sickert. Es mochte sein, daß man ihn in Nadelhota auslachte, aber all diese Bauern waren so ganz in ihm enthalten, daß ihn ihre Mißachtung nicht im geringsten berührte. Vielleicht nannte ihn jemand einen Dummkopf, aber Marhoul kannte all die Schimpfnamen, die Menschen einander geben können, ohne daß einer den andern damit kränken will. Er umklammerte den Griff seines Stockes und schritt aus, den Nordostwind zerteilend; im Bewußtsein des Neuen hob er den Kopf in die Höhe, und es schien, als trällere er vor sich hin…“
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Diese Leseprobe wurde dem Exil-Archiv freundlicherweise von der Deutschen Verlags-Anstalt zur Verfügung gestellt.
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