Gerhard Leopold Durlacher
Mediziner, Soziologe und Schriftsteller
Geb. 10. 7. 1928 in Baden-Baden
Gest. 2. 7. 1996 in Haarlem/ NL
„Als auf dem Markt hinter der Stiftskirche dicke Bäuerinnen mit Körben voll länglicher, blauer Zwetschgen stehen, weiß ich, daß Mutter einen Kuchen backen wird. Auf rechteckigen Backblechen legt sie entsteinte und halbierte Zwetschgen wie Dachziegel in vielen Reihen nebeneinander auf den Teig, streut Zucker und Zimt darüber und gibt dünne Sahne dazu.“
(aus: Ertrinken – Eine Kindheit im
Dritten Reich, 1987, deutsch 1993)
Wohlbehütet wächst Gerhard Leopold Durlacher in Baden-Baden auf. Wenn der Duft von warmem, saftigem Zwetschgenkuchen durch die Wohnung zieht oder geheimnisvolle Päckchen neben den hell flackerten Kerzen der Chanukka-Leuchter liegen und die Mutter meint, das Fest, das wie Weihnachten sei, könne beginnen, dann ist für den Jungen die Welt in Ordnung. Märchenhaft die Kindervorstellungen im plüschigen Theater, obwohl die Hosenbeine überm Knie kratzen, und himmlisch der riesige, mit silbernen Kugeln und goldenen Sternchen geschmückte Tannenbaum auf dem Leopoldsplatz, den der Kleine an der schützenden Hand von Maria, dem Kindermädchen, überquert. Doch das Paradies trügt.
Der Fünfjährige spürt die Bedrohung, als die Erwachsenen zu essen aufhören, weil aus dem Radio eine aufgeregte Stimme erschallt. Als sich eine lange Reihe brennender Fackeln an den eleganten Häusern der Kurstadt vorbeischlängelt. Als sich eine Menschenmenge vor dem Möbelgeschäft der Großmutter zusammenrottet und die Mutter seine Hand schmerzhaft zusammendrückt. Irgendwann muss sein Kindermädchen, seine geliebte Maria, die Familie verlassen, vom obligatorischen Gruppenfoto der ersten Klasse wird er gemeinsam mit einem anderen Kind ausgeschlossen – „… jüdische Kinder, Sie verstehen!“, erklärt der Klassenlehrer den beiden Müttern.
Aufgeschreckt von den Geschehnissen in Nazideutschland flüchtet die Familie 1937 zu Verwandten in die Niederlande. Gerhard ist neun Jahre alt. „Mein Zuhause fort, mein Zimmer fort, mein Hund fort, mein Spielzeug fort, fort, fort, alles fort.“, schreibt er fünfzig Jahre später, als es ihm endlich gelingt, Worte zu finden, mit denen er das Schreckliche, das bis dahin Unaussprechliche zum Ausdruck bringen kann, das ihn sein ganzes Leben lang gefangen hält.
Er schreibt diesen Satz auf Niederländisch, denn auch die Muttersprache, die Sprache seines „Herkunftslandes“, wie er Deutschland später bezeichnen wird, ist fort. Zurückgeblieben auf dem Stand des Grundschulkindes. Gerhard muss Niederländisch lernen, und er gewöhnt sich daran, dass die Menschen in der neuen Heimat seinen Namen „so komisch“ aussprechen, „als würde(n) sie sich beim G die Kehle räuspern.“
Doch weder die neue Heimat noch die neue Sprache bieten Schutz. Am 2. Oktober 1942 werden Gerhard Durlacher und seine Eltern zusammen mit einer Tante und zwei jüdischen Freunden – die Großmutter ist inzwischen verstorben – von der niederländischen Polizei verhaftet und einen Tag später ins Durchgangslager Westerbork südlich von Groningen gebracht. Im Januar 1944 wird die Familie zuerst nach Theresienstadt und wenige Monate später, im Mai 1944, weiter nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo Josef Mengele Neuankömmlinge für seine menschenverachten- den Experimente nach Gutdünken selektioniert.
„Die Sechzehn- bis Fünfundvierzigjährigen marschieren nackt an Mengele vorbei, den linken Arm vor der Brust. Ein paar Meter vor ihm ein Stock, über den sie springen müssen. Rekruten im Turnsaal. Die Zeichen, die er den Schreibern gibt, sind kaum wahrnehmbar. (…) Der Blockälteste verweist die Unmuskulösen, Verletzten, Abgemagerten, Hinkenden und Bebrillten, das untaugliche Fallobst, mit einer ruckartigen Kopfbewegung in die Ecke der Wertlosen.“
(aus: Streifen am Himmel, 1982, deutsch 1994)
Als einziger seiner Familie wird Gerhard die Hölle des Männerlagers B II D überleben. Russische Truppen befreien Anfang Mai 1945 die Gefangenen des Konzentrationslagers Groß-Rosen, wohin er ein halbes Jahr zuvor verlegt worden war. Nach Zwischenstationen in Prag und Paris kommt er im Juli 1945 zurück in die Niederlande. Nicht jeder empfängt ihn mit offenen Armen: Die neuen Bewohner des Hauses seiner Eltern lassen ihn nicht über die Schwelle, eine Tante, die ihn zunächst aufnimmt, ist der Situation nicht gewachsen – es kommt zu unschönen Szenen. Mithilfe eines Notars, eines alten Freundes seiner Eltern, findet er eine andere Unterkunft und kann schließlich im September wieder zur Schule gehen.
Von 1948-1954 studiert Gerhard Durlacher Medizin in Utrecht, danach Soziologie in Amsterdam. Seine Doktorarbeit schreibt er über „De laagstbetaalden“, über die am schlechtesten bezahlte arbeitende Bevölkerung. Ab 1964 unterrichtet er Sozialwissenschaften an der Universität von Amsterdam. Es ist dieses Lernen, Lehren und Forschen, das ihm hilft, das Überleben zu ertragen. Aber seinen Erinnerungen geht er aus dem Weg. Es geht ihm, wie so vielen anderen, die den Holocaust überlebt haben: „Die Vergangenheit: Ein Panzerschrank, der fast nie geöffnet wird.“
Er schweigt über das, was ihm geschehen ist, mehr als drei Jahrzehnte lang. Bis Ende der 70er Jahre „der Mörtel nicht mehr standhält“. Mithilfe von Therapeuten brechen die verschütteten Erinnerungen hervor, beginnt Gerhard Durlacher sich die Fragen zu stellen, auf die wir bis heute noch keine Antwort haben: Die Fragen nach dem „Warum“ der Katastrophe, nach dem „Warum“ und „Wie“ der Errettung aus den Konzentrationslagern, und warum die Welt sich „blind und taub in den schwärzesten Stunden des Krieges und nach dem Kriege“ stellte. Einige Jahre später wird ihm in Israel ein ehemaliger Mitgefangener im Männerlager, der inzwischen Rabbiner geworden ist, ein kleines Buch schenken „über uns und wie – Sein Name sei gepriesen – uns errettet hat“.
„Mühsam wechseln wir ein paar Sätze. Die Pausen sind lang. Unsere Welten liegen weit entfernt von einander und doch verbindet uns ein altes Band. Nach einer knappen Stunde geht er fort, weil, wie er entschuldigend sagt, der Sabbat nicht mehr fern ist und er seinen Pflichten nachkommen müsse. Mit gemischten Gefühlen von Zuneigung und Zweifel schaue ich ihm nach. Das Büchlein über ‚uns und wie – Sein Name sei gepriesen – uns errettet hat’ wiegt schwer in meiner Hand. Warum uns und nicht die anderen?“
(aus: Die Suche – Bericht über den Tod und das Überleben)
Endlich kann er sich seiner Vergangenheit stellen, und er beginnt in Akten und Archiven nach Überlebenden, nach „den Jungen“, zu suchen, die mit ihm in Birkenau waren. Er besucht sie in den USA und in Israel, er führt lange Gespräche mit ihnen und versucht zu verstehen: „Wie hatten sie überlebt, wo waren sie gewesen und wie war ihre Befreiung?“ Erst allmählich wird ihm, der sich vorgenommen hatte, wissenschaftlich zu arbeiten und Gesetzmäßigkeiten herauszufinden, bewusst, „daß sich mein eigener Alptraum im Alptraum der anderen spiegeln wird. Ich will meine Entfremdung durchbrechen (…), um dadurch die Vergangenheit heraufzubeschwören.“ Gleichzeitig beginnt er zu schreiben – Momentaufnahmen seiner Kindheit, seiner Erlebnisse in den Lagern, seiner Rückkehr in die Niederlande, die ihm vielleicht erst richtig Heimat wurde, nachdem er 1953 niederländischer Staatsbürger wurde. Erst aus diesen Büchern erfahren die Kinder vom Schicksal des Vaters.
Die letzten Jahre vor seinem Tod am 2. Juli 1996 mögen für ihn selbst befreiend gewesen sein, auch wenn er zugibt, dass seine Suche in einen „Wald von Fragen“ mündete. Vielleicht ist es ihm gelungen, einen Teil seiner bedrückenden Erinnerungen aufzuarbeiten, wie der Therapeut wohl sagen würde. Aber mit dem Tod erledigen sich die Fragen nicht, und die Vergangenheit eines Menschen spiegelt sich wider im Leben von Familienmitgliedern, von Nachgeborenen. Die Kinder der Opfer (und auch die Kinder der Täter!), ob sie es wollen oder nicht, suchen weiter nach Antworten. Wer die Romane der niederländischen Autorin Jessica Durlacher, der ältesten Tochter von Gerhard Durlacher liest, fühlt den hilflosen Zorn, die „schullose Schuld“, der Angehörige von Traumatisierten oftmals ausgesetzt sind. Sie hat das Schweigen des Vaters über das Unsagbare erlebt und wie das Kind Gerhard im Baden-Baden der 30er Jahre gespürt, dass irgend etwas nicht in Ordnung ist. Wie ihr Vater sucht auch sie in ihren Büchern nach Antworten, nicht zuletzt auf ihre eigenen unausgesprochenen Fragen an den Vater: Warum?
„Wir fahren an den alten gelben Wohnkasernen der Vorstadt vorbei. Ich erkenne nur wenig. Der Radius meiner Kindheit reichte nicht so weit. Wo die Stadt beginnt, ist plötzlich alles wieder da. Das Damals und Jetzt fallen beinahe zusammen. Die Rosensträucher, die Blumenbeete, die raunende Murg, klar wie ein Kristall, (…). Vor meiner Schule bleibe ich stehen. Niemals bin ich fortgewesen, nichts hat sich verändert. (…)
Frau und Tochter folgen mir wie Pflegerinnen, die hinter einem Schlafwandler herlaufen, besorgt um meine Sicherheit.“
(aus: Ertrinken – Eine Kindheit im Dritten Reich, 1987, deutsch 1993)
Petra Reategui
Werke:
Ertrinken. Eine Kindheit im Dritten Reich
Europäische Verlagsanstalt, 1993, ISBN 3434500235
Streifen am Himmel. Vom Anfang und Ende einer Reise, Europäische Verlagsanstalt, 1994,
ISBN 3434500243
Die Suche. Bericht über den Tod und das Überleben
Europäische Verlagsanstalt, 1995, ISBN 3434500251
Wunderbare Menschen. Geschichten aus der Freiheit
Europäische Verlagsanstalt, 1998, ISBN 3434504257
Niet verstaan
Meulenhoff 1995 (Nicht ins Deutsche übersetzt)
Met haat valt niet te leven – Interviews und Gespräche
Meulenhoff 1998 (Nicht ins Deutsche übersetzt)
Verzameld werk
Meulenhoff 1997
Co-Autor in:
Society and The Trauma of War
Assen/Maastricht/Wolfeboro, Van Gorcum, 1987
Preise:
1994: Anne Frank-Preis für Ertrinken
1994: AKO-Literaturpreis für Wunderbare
Menschen
Links (deutsch):
http://archives.arte-tv.com/societe/jmberlin/dtext/holocaust/a_durlacher.html
http://www.filmzentrale.com/rezis/reiseninsleben.htm
http://addpro.imdb.com/name/nm0244209/
International:
http://www.serendib.be/gievandenberghe/artikels/doorbrokenijs.htm
http://www.maatschappijdernederlandseletterkunde.nl/mnl/levens/97-98/durlacher.htm
http://scholieren.samenvattingen.com/documenten/show/8235712/
http://nl.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Durlacher
http://www.dbnl.org/tekst/bork001schr01_01/bork001schr01_01_0291.htm
Die Kommentare sind deaktiviert.