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Kahler, Erich von

H.A.M. 0

Erich von Kahler (auch Erich Kahler)
Schriftsteller, Kulturphilosoph und Soziologe
 
Geb. 14.10.1885 in Prag/Österreich-Ungarn
Gest. 28.6.1970 in Princeton (New Jersey)/ USA


„Unsere Lage ist so, daß wir in der Mitte hangen zwischen der verlorenen Einheit des menschlichen Individuums und der nicht realisierten Einheit der menschlichen Gemeinschaft. Die Rettung des Humanen hängt davon ab, ob wir das Ziel einer voll realisierten, auch äußerlich, kollektiv realisierten menschlichen Gemeinschaft erreichen, innerhalb der Völker wie über den Völkern. Aber die Aufgabe einer moralischen Heilkunde besteht nicht nur darin, uns durch die Integration unseres Weltbildes und unserer Gesellschaftsform diesem Ziel näher zu bringen, sonder zugleich und vor allem die Mittel zu kontrollieren, die dabei verwendet werden sollen. Das Ziel heiligt nicht die Mittel, sondern meist ruinieren die Mittel das Ziel. Wenn wir nicht das Ziel schon in den Mitteln vorbereiten, durch die Pflege menschlicher Sensibilität und Verantwortung, dann schwindet es auf dem Weg, und wir erreichen es nie.“ (Erich von Kahler: „Der Verfall des Wertens“ in ders., „Die Verantwortung des Geistes. Gesammelte Aufsätze“, Frankfurt am   Main: S. Fischer Verlag 1952, S. 298 – ursprünglich: Vortragstext, Black Mountain College, 1947)


1900 siedelt die jüdische Familie Kahler von Prag nach Wien über, wo der Vater als erfolgreicher Industrieller von Kaiser  Franz Joseph geadelt wird. Erich von Kahler, der bereits als Jugendlicher Lyriksammlungen veröffentlicht, studiert Geschichte und Philosophie in Berlin, Heidelberg, München und Wien, wo er 1911 mit einer Arbeit Über Recht und Moral zum Dr. phil. promoviert wird. Seit 1912 lebt der vermögende von Kahler als Privatgelehrter in Wolfratshausen bei München, gehört zum George-Kreis und steht mit Friedrich Gundolf und Max Weberin regelmäßigem Kontakt.


Nach der NS-Machtergreifung 1933 kehrt von Kahler von einer  Österreichreise nicht nach Deutschland zurück und emigriert etappenweise über die Tschechoslowakei  (Prag) und die Schweiz (Zürich, 1935-38) in die USA. Dort lebt er bis zu seinem Tode in Princeton, New Jersey. Kahler lehrt in den USA Geschichte und Geschichtsphilosophie an der New School for Social Research (New York) und am Black Mountain College in North Carolina. 1947 übernimmt  er eine Professur für deutsche Literatur an der Cornell University in Ithaca. Gastprofessuren führen ihn an die University Manchester in England, an die Ohio State University und die Princeton University, wo er Kultursoziologie liest. Während des Zweiten Weltkrieges gibt er dem emigrierten Dichter Hermann Broch in seinem Hause Unterkunft. Er kehrt nicht nach Deutschland zurück – keine deutsche Universität beruft ihn auf einen Lehrstuhl – nimmt aber einige Lehraufträge in der Bundesrepublik an.


Kahlers Bekanntschaft mit Thomas Mann besteht seit 1919, seit seit der gemeinsamen Zeit in Princeton sind sich die beiden Männer freundschaftlich verbunden. In Thomas Manns Tagebüchern findet von Kahler regelmäßig Erwähnung; bis zum Tode Manns stehen sie im Briefwechsel, zudem veröffentlicht er viele Artikel über Manns Werk. In einem Aufsatz zu Kahlers 60. Geburtstag im Jahre 1945 nennt  Thomas Mann ihn  „einen der klügsten, feinsten und reichsten Köpfe, die heute wirken, eines der gütigsten, wissendsten und zur Hilfeleistung willigsten Herzen, die heute schlagen“.


In seinem Werk folgt Kahler dem wissenschaftlichen und publizistischen Mainstream, als er 1914 seine Kriegsschrift Der vorige, der heutige und der künftige Feind veröffentlicht. Nach dem Ersten Weltkrieg reagiert er  mit seinem Buch Der Beruf der Wissenschaft auf den ähnlich lautenden Werktitel Wissenschaft als Beruf von Max Weber. Darin setzt er sich kritisch mit Webers Wissenschaftspostulat der Wertfreiheit auseinander. 1937 publiziert er dann sein keineswegs dem Zeitgeist angepasstes Hauptwerk Der deutsche Charakter in der Geschichte Europas, das laut  René König wegen seiner Diagnose des Autoritarismus zu den höchst bedeutsamen Werken der Soziologie gehört. Thomas Mann schreibt  über das Buch: „Es ist die Standard-Psychologie des Deutschtums, ein Buch leidend durchdringender und umfassend darstellender Erkenntnis, ein Buch der Liebe im Grunde: einer kritisch gebrochenen, verhängnisschweren Liebe, in welcher das Negative und Positive in schmerzlicher Ambivalenz verschwimmen“. Die voluminöse Arbeit ist auch als patriotisch-geisteswissenschaftlicher Rückgriff auf das andere Deutschland zu lesen – auf das Deutschland der „Dichter und Denker“. Damit verfehlte es aber schon 1937 die Aktualität – , wohl deshalb geriet es weitgehend in Vergessenheit. Im Jahr 1943 veröffentlichte von Kahler in New York das kulturhistorische Werk Man the Measure: A New Approach to History. Es beruhte auf Vorlesungen, die von Kahler 1941 und 1942 an der New School for Social Research gehalten hatte. In der Einleitung schrieb Kahler: „This book is an attempt to write history as the biography of man and from it to gain a view of the future of man.“ Thomas Mann bezeichnete das Buch als einen „Roman der Menschheit, erzählt von einem musischen Denker und historischen Rhapsoden“.


Werke:

  • Der vorige, der heutige und der künftige Feind (1914)
  • Weltgesicht und Politik (1916)
  • Das Geschlecht Habsburg (1920)
  • Der Beruf der Wissenschaft (1920)
  • Israel Unter den Völkern (1936)
  • Der deutsche Charakter in der Geschichte Europas (1937)
  • Man the Measure: A New Approach to History (1943)
  • The Arabs in Palestine (mit Albert Einstein, 1944)
  • Die Verantwortung des Geistes. Gesammlete Aufsätze (1952)
  • Die Philosophie von Hermann Broch (1962)
  • Stefan George (1964)
  • Orbit of Thomas Mann (1969)
  • The Jews among the nations (1989)
  • Judentum und Judenhass: drei Essays (1991)

Quellen:

Kahler, Erich von in: Deutsche Biographische Enzyklopädie (hrg. von Walther Killy und Rudolf Vierhaus), Bd. 5, München 1997 (Nachdruck dtv, München 2001), S. 402

Anna Kiel,  Erich Kahler, ein ‚uomo universale‘ des zwanzigsten Jahrhunderts – seine Begegnungen mit bedeutenden Zeitgenossen. Vom Georgekreis, Max Weber bis Hermann Broch und Thomas Mann,, Bern u.a., Lang 1989

Thomas Mann,  Tagebücher 1953-1955 (hrg. von Inge Jens), Frankfurt am Main 1995

Johannes Urzidil: Prag als geistiger Ausgangspunkt. Festansprache vom 21. 10. 1965 anläßlich des 80. Geburtstages von Erich von Kahler, New York, Leo Baeck Institute, 1966.

Sven Papcke: Gesellschaftsdiagnosen. Klassische Texte der deutschen Soziologie im 20. Jahrhundert, Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 1991


Autor:

Jürgen Oetting


Links (deutsch):

http://www.munzinger.de/search/portrait/Erich+von+Kahler/0/11243.html Munzinger

http://www.braun-in-wolfratshausen.de/20.htm

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