Angela Rohr
Schriftstellerin, Journalistin und Ärztin
Geb. 5.2. 1890 in Znaim/Österreich – Ungarn
Gest. 7.4. 1985 in Moskau/Sowjetunion
„So war die Welt Bild geworden meiner selbst, so erkannte ich meine Zufälligkeiten an den Zufälligkeiten dieser Welt, aber auch ihre Zusammenhänge wurden mir deutlicher; war die Unsicherheit einer Form gegeben, wieviel mehr musste die Sicherheit einer Idee bestehen, zu der ebendiese Formen nur vage Versuche einer Verdeutlichung ausmachten?“ Aus: Angela Guttmann, „Die Erfüllung“, Fragment 1919.1
Wer ist Angela Rohr?
Als Verfasserin dichterischer Texte, die in literarischen Zeitschriften erscheinen, begegnet sie 1919/1920 in Locarno Rainer Maria Rilke. Er lobt ihre „Kraft, die Einzelheit festzuhalten und doch auch im Bewusstsein des Ganzen zu sein“ 2. Als Ärztin mit russischer Staatsangehörigkeit behandelt sie 1935 Bertolt Brecht in Moskau. Dieser verwendet sich auf seiner Reise ins Exil 1941 brieflich bei dem russischen Schriftsteller Konstantin Fedin dafür, die journalistische Arbeit Angelas, welche ihm aus der „Frankfurter Zeitung“ bekannt ist, zu unterstützen. Vergeblich, nur einen Monat später werden sie und ihr Ehemann als „Spione“ verhaftet. Während Wilhelm Rohr schon 1942 im Lager Saratow verstirbt, überlebt Angela Haft und Verbannung, arbeitet in Sibirien als Landärztin und kann erst 1957, rehabilitiert, nach Moskau zurückkehren. Nun beginnt ihr autobiographisches Schreiben, das die in 16 Jahren erlittene stalinistische Verfolgung, das Lagerdasein, die „ewige“ sibirische Verbannung nicht als dokumentarischen Bericht wiedergibt, sondern mit verdichteter Erzählkunst von großer Intensität. Nichts davon wurde zu Lebzeiten der Dichterin veröffentlicht, ihre Versuche, in der DDR zu gedruckt zu werden, scheitern. Durch den persönliche Einsatz des österreichischen Diplomaten Hans Marte, der sich in Moskau mit der 87-jährigen „Angelina“ Rohr angefreundet hat, gelangen Manuskripte nach Wien, wo sie 1989 unter dem Pseudonym Helene Golnipa und dem Verlagstitel „Im Angesicht der Todesengel Stalins“ herausgegeben werden. Das Buch wird als Zeugnis über den Gulag rezipiert, ohne mit einer bereits bekannten Schriftstellerexistenz in Verbindung gebracht zu werden. Dass heute die Identität der unter verschiedenen Namen und Pseudonymen hervorgetretenen Autorin geklärt ist und ein repräsentativer Querschnitt ihres Werkes vorliegt, ist einigen Glückszufällen zu danken sowie der Leistung von dessen Herausgeberin Gesine Bey, die im Nachwort den verschlungenen Lebensweg nachzeichnet und eine erste Würdigung des Gesamtwerkes vornimmt.
Früher Bruch mit der bürgerlichen Herkunft
Angela Helena Müllner stammt aus einem österreichischen katholischen Elternhaus, der Vater ist Eisenbahner und Lokalpolitiker, als sie 14 Jahre alt ist, siedelt die Familie von der mährischen Geburtsstadt nach Wien über. Nach der vorzeitigen Beendigung der Schulausbildung, dem Bruch mit den Eltern und der vorehelichen Geburt einer Tochter, die bei Verwandten aufwächst, heiratet sie den expressionistischen Schriftsteller Leopold Hubermann. 1913-1914 wohnen die beiden im Quartier Latin in Paris, wo Angela ohne offizielle Zulassung Medizin studiert. Im Sommer 1914 endgültige Trennung von Hubermann und Übersiedlung in die Schweiz zur Behandlung eines Lungenleidens. Fortsetzung der Medizinstudien in Genf bis 1915.
Verfasserin von Erzählungen und Skizzen im expressionistischen Stil
Erste Veröffentlichungen der Angela Hubermann seit 1914, u. a. in „Die Ähre“(Zürich) und „Die Aktion“(Berlin). Bis 1917 in Züricher Kreisen internationaler Künstler lebend, Gründung der Zeitschrift „Sirius“ mit Schirner (Herausgeber) Beteiligung an Auftritten der Dadaisten. Freundschaft und Scheinehe 1916-1918 mit Simon Guttmann3. Ab 1918 überwiegend im Tessin, Schreiben über afrikanische Plastik, im Winter 1919/20 intensive Bekanntschaft mit Rilke, welcher ihr herausragendes Talent erkennt und der Erzählung „Ein alter Brief aus dem Newgate-Gefängnis“ zum Druck verhilft. In der Form einer Gefängnisnovelle schreibt die Dreißigjährige eine faszinierende Parabel, die Themen des Spätwerks vorausnimmt: Aus für sie unnachvollziehbaren Gründen zum Tode bestimmt, versuchen die Verurteilten vergebens sich zu wehren, auch die spezifisch weibliche Variante der Rettung, die Hoffnung auf ein Kind zu setzen, versagt. Am Ende gelingt zwar nicht die Umkehrung des Verhängnisses, aber doch eine Durchbrechung der Leblosigkeit und Liebesleere durch das Erzählen.
Psychoanalytische Studien und medizinische Forschungen, Zeitungsreportagen
1920-1923 studiert Angela an der Psychoanalytischen Lehranstalt von Abraham/Eitingon in Berlin. Hier lernt sie den Psychologie- und Soziologiestudenten Wilhelm Rohr kennen, den sie 1924 heiratet und ihm 1925 nach Moskau folgt. Angela engagiert sich dort für den Aufbau des Psychoanalytischen Instituts und in der Jugendfürsorge und wird mit medizinischen Forschungsarbeiten beauftragt. Ihr Schreiben ist nun journalistisch ausgerichtet, sie schickt Reportagen an deutsche und vermutlich auch an schweizerische Blätter, ab 1941 arbeitet sie an der Exilzeitschrift „Internationale Literatur“ mit, die von Johannes R. Becher in Moskau herausgegeben wird. Die Rohrs sind seit Ausbruch des Krieges scharfer Beobachtung und Verdächtigungen ausgesetzt, dennoch können aus den Artikeln, die zumeist Episoden aus dem Leben bekannter russischer Persönlichkeiten, aber auch dem Alltag kleiner Leute liefern, kritische Reflexionen herausgelesen werden.
Im Angesicht der Todesengel Stalins
Nach einem Jahr Untersuchungshaft ohne Gerichtsverfahren wird Angela Rohr zu fünf Jahren Haft im Gefängnis Saratow an der Wolga verurteilt. Sie verarbeitet die Erlebnisse physischer und psychischer Gewalt, welche sie und andere gefangene Frauen während der Verhöre und unter den unmenschlichen Haftbedingungen erlitten haben, in den Erzählungen „Der Vogel“ und „Die Zeit“ (um 1960). Die Ich-Erzählerin nähert sich in diesen Texten ihrem Gegenstand mit einer gewollt distanzierten Erzählhaltung, welche sich zuweilen mit kalter Ironie auf die verdrehte Denkweise und die absurden Handlungen des übermächtigen Gegners einlässt. Ihre Beschreibung des Elends, scheinbar ohne Anklage, zieht den Leser hinein in die Perspektive einer Ohnmächtigen, welche die Folgen ihrer Misshandlung nur von außen konstatieren kann. Dies tut sie mit schonungsloser Genauigkeit: Hunger und Kälte bewohnen die Dinge und die Körper, gefährden den Geist. Aber Menschlichkeit, durch Krankheit und Folter an die äußerste Grenze geführt, blitzt noch auf in Handlungen des Mitgefühls, in Sehnsuchtsbildern, im Willen, sich dem Untersuchungsrichter nicht zu unterwerfen. Trotz der realistischen Detailtreue, mit der sie Praktiken eines verbrecherischen Regimes aufdeckt, ist es Angela Rohr, wie die Titel schon zeigen, um eine bildhafte, verallgemeinernde Darstellung zu tun, es geht nicht nur um eine historische Abrechnung, sondern um die Bedingungen des Menschseins und die Möglichkeiten es zu verlieren.
1942 wird die Gefangene nach Sibirien deportiert, wo ihre Haft nach vier Jahren in Verbannung umgewandelt wird. Schon im Lager kann sie als Ärztin arbeiten, danach dehnt sie ihre Tätigkeit als „freie“ sibirische Landärztin aus bis zu ihrer Rückkehr nach Moskau 1957. Über diese Zeit berichtet der autobiographische Roman „Im Angesicht der Todesengel Stalins“, dem auch die beiden früheren Erzählungen beigefügt wurden.
Anmerkungen:
1 u. 2) Zitate entnommen aus Angela Rohr, Der Vogel a. a. O.
3) G(h)uttmann, Simon Wilhelm (1891-1989), Mitbegründer des „Neuen Club“ 1909 in Berlin, Mitarbeiter von „Die Aktion“, der 1918 von Zürich nach Berlin zurückkehrte, war ein persönlicher Bekannter von Else Lasker Schüler. Sie erwähnt ihn in ihren Briefen aus der Zeit von 1913-1918 mehrmals, Hinweise auf Angela sind an der Stelle nicht auszumachen.
Autorin:
Ulrike Frank
Quelle:
Nachwort und Zeittafel von Gesine Bey, in Angela Rohr, Der Vogel a. a. O, S. 255-293.
Werke :
Angela Rohr, Der Vogel. Gesammelte Erzählungen und Reportagen, hrsg. v. Gesine Bey, BasisDruck Verlag Berlin 2010.
Helene Golnipa, Im Angesicht der Todesengel Stalins, hrsg. v. Isabella Ackerl, Edition Tau, Wien 1989. (Vergriffen)
Weiterführende Literatur:
Hartmut Vollmer (Hg.), Die rote Perücke. Prosa expressionistischer Dichterinnen. Insel Verlag Literatur, Paderborn 1996.
Links (deutsch):
de.wikipedia.org/wiki/Angela_Rohr
www.spiegel.de/spiegel/print/d-71030040.html
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