Silvia Schlenstedt
Literaturwissenschaftlerin
Geb. 10. 04 1931 in Wuppertal
Gest. 16.03. 2011 in Berlin
1934 musste mit dem Machtantritt der Nazifaschisten die Familie ins Exil zunächst nach Spanien, dann nach Frankreich und später in die Schweiz flüchten. 1945 kehrte sie nach Deutschland zurück, zunächst nach Westdeutschland und 1950 in die DDR.
Silvia Schlenstedt absolvierte ein Germanistikstudium in Berlin, war danach wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität und wurde mit einer Arbeit über die “Svendborger Gedichte“ von Bertolt Brecht promoviert. Sie habe dabei nach ihren eigenen Worten zu erfassen versucht, was überhaupt materialistische Literaturbetrachtung heißen könnte. Als sie Volker Braun mit seinem Stück “Paul Bauch“ – später “Die Kipper“ – zu einer Lehrveranstaltung einlud, führte das zu heftigen Attacken auf Braun durch den Bezirkssekretär der SED Berlin. Da hatte sie genug. Sie wechselte an die Akademie der Wissenschaften.
Ab 1968 arbeitete sie am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR und wurde 1982 zur Professorin für neuere deutsche Literatur mit der Arbeit zu Johannes R. Becher, Ivan Goll, Rainer Maria Rilke und Gottfried Benn mit dem Titel “Wegscheiden. Deutsche Lyrik im Entscheidungsfeld der Revolutionen von 1917 und 1918“ habilitiert. Ihre Emeritierung erfolgte im Jahr 1991, dem Jahr, in dem das ZIL “abgewickelt“ wurde. Ihre Forschungsschwerpunkte waren die Deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts, insbesondere die des Expressionismus’, Exilliteratur und deutsch-jüdische Literatur. Von Anfang an war es vor allem die Lyrik, mit der sie sich beschäftigte. In den 1960er Jahren hat sie vorwiegend über die Lyrik des Expressionismus gearbeitet.
Zu ihren wichtigsten Arbeiten gehört in dieser Zeit auch die Erforschung und Darstellung des spanischen Exils, im Band 6 der zwischen 1979 und 1987 in Leipzig erschienenen Reihe “Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933-1945“ in sieben Bänden. Die Bedeutung dieser Bände für die internationale Exilforschung kann nicht hoch genug gewürdigt werden.
“Wer schreibt, handelt“ lautet der Titel einer Monographie, die 1983 von ihr herausgegeben und in weiten Teilen von ihr verfasst wurde. Der Untertitel lautete “Strategien und Verfahren literarischer Arbeit vor und nach 1933“. Kulturtheoretische und literatursoziologische Untersuchungen mit dem Fluchtpunkt Literaturästhetik wurden zu Leitfäden dieses außergewöhnlichen Buchs, das ergänzt wurde durch textnahe Einzeluntersuchungen zu Ernst Ottwalt, Klaus Mann , Egon Erwin Kisch, Anna Seghers , und anderen, und natürlich zu den Lyrikern Brecht, Becher , Goll, Theodor Kramer . Das innovative Grundkonzept des Buches bestand darin, dass die Zäsur von 1933 aufgegeben wurde zugunsten einer Periodisierung, die die Jahre vor und nach diesem Einschnitt einbezieht und das Prozesshafte der Entwicklung stärker hervortreten lässt.
Ihr nationales und internationales Renommee verdankt sie zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen und Vorträgen, die sie in fast allen Ländern Europas gehalten hat. Es würde den Rahmen der Würdigung sprengen, wenn man alle ihre Publikationen hier aufzählen würde. Es kann aber auf vier Hinweise nicht verzichtet werden:
Mit der wesentlich erweiterten Neufassung des “Lexikons sozialistischer Literatur“ wurde noch in der letzten Phase der DDR begonnen. Das Projekt schien für die Abwicklung prädestiniert. 1995 konnte es doch noch erscheinen: im Stuttgarter Metzler Verlag. Silvia Schlenstedt war Mitherausgeberin und hat zahlreiche Lemmata verfasst.
1999 schrieb sie einen Aufsatz mit dem programmatischen Titel “Deutschsprachige Lyrik nach 1900 von Dichterinnen jüdischer Herkunft“. Ins Zentrum rückte sie die Autorinnen Mascha Kaléko, Nelly Sachs , Else Lasker-Schüler , Gertrud Kolmar , Ilse Blumenthal-Weiss und Rose Ausländer . Über ihre Motive gibt es von ihr keinen Bericht. Es bleibt die Frage, ob ihr in den späteren Jahren ihres Schaffens das Jüdische wichtig wurde?
2001 wurde sie zur Herausgeberin des Romans “Transit“ von Anna Seghers. Es war eines ihrer Lieblingsbücher. Ganz zuletzt, von Krankenhausaufenthalten geschwächt, bearbeitete sie noch einen weiteren Band für die neue Seghers Gesamtausgabe mit der Novelle “Der Ausflug der toten Mädchen“ im Zentrum. Im März 2011, wenige Tage vor ihrem Tod, lieferte sie die Arbeit ab.
Für die Wuppertaler ist interessant und wichtig, dass sie 1988 in einem Leipziger Verlag das Buch “Else Lasker-Schüler: Gedichte, Prosa, Briefe, Dokumente“ herausgegeben und an der Bergischen Universität über die Lyrik Else Lasker-Schülers gesprochen hat, und dabei interessante und überraschende Interpretationen wichtiger Gedichte präsentierte.
Ich hatte zahlreiche Begegnungen mit Silvia Schlenstedt, auf Tagungen, Konferenzen in ihrer von Büchern überquellenden Wohnung in der Seelenbinderstraße 21. Sie war eine faszinierende Persönlichkeit und eine großartige Wissenschaftlerin. Ihr Tod reißt eine große Lücke vor allem in die Forschungen zur Exilliteratur, denen auch ich besonders verpflichtet bin. Ihr verdanke ich auch den Hinweis auf das einzige deutschsprachige Kinder- und Jugendbuch zum Spanischen Bürgerkrieg, auf das Buch „Vier spanische Jungen“ der deutsch-jüdischen Kinder- und Jugendbuchautorin Ruth Rewald , das Ausgangspunkt wurde für den wissenschaftlichen Blick auf die Kinder- und Jugendbuchautorinnen und –autoren im Exil 1933-1945 und für meine Dissertation und Promotion an der Bergischen Universität Wuppertal.
Nachfolgend noch einige Anmerkungen zur Familie von Silvia Schlenstedt: Ihre ältere Schwester, Doris Pollatschek, wurde am 14. Februar 1928 ebenfalls in Wuppertal-Barmen geboren. Sie studierte von 1950 bis 1956 an der Kunsthochschule Dresden Bildhauerei. Nach Schwierigkeiten mit den DDR Kulturbehörden gelang ihr 1981 die illegale Ausreise aus der DDR. Nach zahlreichen Umzügen nahm sie ihren Wohnsitz in Jerusalem. Sie begann mit Keramik zu arbeiten. 1995 wurde ihr eine große Ausstellung in der Begegnungsstätte Alte Synagoge hier in Wuppertal gewidmet, die sie auch besuchte und dabei ihr Leben und ihre Werke vorstellte. Sie starb am 13. März 2002.
Ihre jüngere Schwester, Konstanze, wurde im Exil in Fréjus im Süden Frankreichs geboren. Über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt. Ihr Vater, Walther Pollatschek, war Publizist, Kritiker und Herausgeber, auch Kinderbuchautor und wurde am 10. September 1901 in Neu-Isenburg geboren. Er studierte Germanistik, Theatergeschichte und Musikgeschichte in Heidelberg, München und Frankfurt am Main. Er arbeitete nach seinem Studium in Wuppertal als Feuilleton Redakteur und Theaterkritiker. Er war Jude und Antifaschist. Deswegen wurde er 1933 entlassen. Er ging mit der Familie nach Berlin und wurde bei einem erneuten Besuch in Wuppertal verhaftet. Nach seiner, durch glückliche Zufälle bedingten Entlassung, verließ er Deutschland und emigrierte zunächst nach Spanien. Dort lebte er von 1934.bis 1936 auf der Insel Mallorca als Schriftsteller, Lehrer und Holzschnitzer. Nach dem Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs wurde er verhaftet. Es gelang ihm aber die Flucht nach Südfrankreich und lebte dort in den Jahren 1936/37. Schließlich ging er in die Schweiz und lebte dort von 1937 bis 1945. Nach dem Ende der faschistischen Diktatur kehrte er nach Deutschland zurück und wurde zunächst in Frankfurt am Main Kulturpolitiker und Schauspielkritiker der ‚Frankfurter Rundschau‘. 1950 ging er in die DDR, arbeitete dort 1950/52 als Redakteur an der ‚Täglichen Rundschau‘ in Berlin, seit 1952 als freischaffender Schriftsteller und Theaterkritiker und als Leiter des Friedrich-Wolf-Archivs. Er starb am 28. Februar 1975.
Pollatschek hat sich vor allem als marxistischer Theater- und Literaturkritiker und Förderer der Gegenwartsdramatik einen Namen erworben. Ein bedeutendes Verdienst ist seine editorische Betreuung des Werkes von Friedrich Wolf, dem hauptsächlich seine Bemühungen in den letzten Jahren galten.
Ein besonderes Kapitel im Leben Pollatschecks ist seine Beteiligung – trotz Verbot – am antifaschistischen Widerstandskampf. So entstand am Zürcher Schauspielhaus auf Vorschlag von Wolfgang Langhoff ein erster Ausschuss der Bewegung des “Freien Deutschland“. Kurze Zeit darauf wurden in Städten der Schweiz, wo mehrere Emigranten und Flüchtlinge sich zusammengefunden hatten, weitere Ausschüsse gebildet. In St. Gallen wurde er von Fritz und Martha Diez und Walther Pollatscheck ins Leben gerufen. Die Bewegung erarbeitete und publizierte ein umfangreiches Programm. Zu Beginn stand die Forderung: “Sturz der Hitler-Regierung! Frieden!“ Es endete mit den Worten: “Wir kämpfen für die Wiederherstellung der Ehre und des Ansehens des deutschen Volkes durch Herstellung der friedlichen Zusammenarbeit mit allen freiheitsliebenden Völkern, durch freiwillige Teilnahme an der Wiedergutmachung und dem Neuaufbau des vom Faschismus zerstörten Europa. Wir kämpfen für die Rettung der deutschen Nation. Deutschland muss leben – Deshalb muss Hitler fallen! Kämpft mit uns für ein unabhängiges, freies Deutschland!“
Als Angehöriger der Gruppe der Wissenschaftler, deren wissenschaftliche Arbeit sich vorwiegend auf dem Gebiet von Kunst und Literatur vollzog, unterlag auch Pollatscheck dem rigorosen Arbeitsverbot. Er durfte weder in seinem Beruf tätig sein noch irgendwo publizieren. Erst gegen Kriegsende besserte sich seine Situation. Dennoch gelang es ihm, die Leitung eines Flüchtlingskinderheimes zu übernehmen, das jugendliche Opfer der Nazis beherbergte. Schließlich wurde er Dozent im Schulungslager für Emigranten und hielt Kurse über das Kinderbuch vom literarhistorischen, pädagogischen und psychologischen Gesichtspunkt. Am 24./25. März 1945 nimmt Pollatscheck noch als Delegierter an der illegalen zweiten Parteikonferenz der KPD in Zürich teil. Kurz darauf löste sich die Bewegung das “Freie Deutschland“ auf.
Nachfolgend ein Auszug aus seinem umfangreichen literarischen Schaffen:
- „Mut und Geist – Heinrich Heine“ aus dem Jahre 1947
- „Herren des Landes“ aus dem Jahr 1951. In dem Roman thematisiert er die die Gegensätzlichkeit in der gesellschaftlichen Entwicklung nach 1945.
- „Philipp Müller, Held der Nation“ aus dem Jahre 1952
- „Über vier Meere“ aus dem Jahre 1955
- „Bezwinge die Meere, Thälmann-Pionier“ aus dem Jahre 1956
- Das Kinderbuch „Drei Kinder kommen durch die Welt“ aus dem Jahre 1947. Darin schildert Pollatscheck sehr einfühlsam und kindgerecht den schweren Gang der Familie in die Emigration. Er beleuchtet die einzelnen Stationen des Exils und die Erlebnisse der Kinder. Wichtig sind die Erklärungen der politischen Ereignisse, die auch die Kinder registrieren. Im ersten Kapitel schildert er die Zeit seiner Kinder in Wuppertal und erklärt sehr ausführlich und anschaulich die Einmaligkeit der Schwebebahn.
- Das Kinderbuch “Die Aufbaubande“ aus dem Jahre 1948. Dieses Buch gehört zu seinen Jugendbüchern, über die er geschrieben hat: “Im Gegensatz zur weitverbreiteten Meinung, das Jugendbuch sei etwas literarisch Zweitrangiges, eines ‚richtigen’ Schriftstellers eigentlich unwürdig, betrachte ich es als eine künstlerisch und geistig höchst wichtige Aufgabe, für das Kind und den Jugendlichen zu schreiben.“
- Das Kinderbuch “Pusteblumenkinder – Eine Löwenzahngeschichte“ aus dem Jahre 1949
- “Das Bühnenwerk Friedrich Wolfs“ aus dem Jahre 1958
Autor:
Dr. Dirk Krüger
Links (deutsch):
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