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Gebirtig, Mordechaj

H.A.M. 0

Mordechaj Gebirtig (eigtl. Mordche Bertig)
Dichter


Geb. 4.4.1877 in Kraków/ damals Rußland
Gest. 4.6.1942 im Ghetto Krakau/ Polen


Mordechaj Gebirtig„Gehat hob ich a Hejm…“

An einem Frühlingstag des Jahres 1942 wird Mordechaj Gebirtig erschossen. Ein Tischler aus Krakau, jener Stadt, die er so geliebt und ihre Menschen, die er sie besang und für die er Lieder aus ihrem Leben schrieb. In Jiddisch, der Muttersprache aller osteuropäischen Juden aus Polen, Litauen und Galizien. Der kleine Mann mit dem großen Herzen aus dem Stadtteil Kazimierz hätte noch rechtzeitig nach Amerika auswandern können. Mit einem Affidavit, dass ihm Freunde besorgt hatten. Aber Mordechaj Gebir-tig lehnt ab. Er hat immer hier in Krakau gelebt. Hier will er auch sterben. Alte Bäume verpflanzt man nicht.

 


Dichter der kleinen Leute

Gebirtig , seine Frau und die drei Töchter werden von der SS ermordet. Was bleibt, sind seine Lieder. Liebeslieder. Arbeiterlieder. Lieder aus dem Alltag der kleinen Leute, die im Schweiße ihres Angesichts das tägliche Brot erschuften. Der musikalische Autodidakt dokumentiert ihr Leben mit seinen Texten. Nicht larmoyant, sondern humorvoll und einfühlsam. Realistisch und drastisch zuweilen, liebevollehrlich, durchwoben von Humor, jüdischem Witz und dem kleinen Jedermann-Traum von einem werweiß-wie besseren Morgen. Denn das Heute ist oft traurig genug im Polen jener Zwischenkriegsjahre, in denen die Arbeitslosigkeit Not und Verzweiflung gebiert wie in so vielen Teilen einer Welt, in der die einen immer reicher und die anderen im-mer ärmer werden. Und wo der Hass auf jene wächst, die so anders zu sein scheinen. Aber was ist anders an einem Menschen, der auch nur an Gott glaubt, der liebt und lacht und heiratet und seine Kinder erzieht und dort sterben will, wo er einst gelebt hat, damit ein Grab an ihn erinnert und Menschen seiner gedenken? Was ist so anders an den Juden im Krakau des Mordechaj Gebirtig?


„Möbelarbeiter“ und Literat

Mordechaj Gebirtig wird am 4. April 1877 als Sohn kleiner Kauf-leute in Krakau geboren. Das Kind erhält eine traditionelle Erziehung, besucht mit drei Jahren die jüdische Elementarschule, den Chejder, erlernt hier das hebräische Alphabet in Schrift und Sprache mit Hilfe von Thoratexten und interessiert sich schon sehr früh für Literatur. Mit Ende Zwanzig verfasst er seine ersten Texte. Schreibt später für eine Theaterzeitung Rezen-sionen. Aber davon kann auch ein Mordechaj Gebirtig nicht existieren. Und lernt einen Brotberuf. Der Tischer Gebirtig ver-steht sich selbst eher als „Möbelarbeiter“, der viel vom Handwerk, aber wenig vom Geschäft versteht. Darum kümmert sich der Bruder, während er am Abend auf seiner kleinen Hirtenpfeife komponiert. Das ist die andere Welt des Mordechaj Gebirtig.


sanfte Liebeslieder, politische Schärfe und eine Partisanenhymne

Der Zimmermann von nebenan, für den sein Freund Julius Hof-mann, seines Zeichens Kapellmeister an der liberalen Synagoge zu Krakau, die Noten aufschreibt, ist nicht nur ein kleiner, sondern vor allem ein bescheidener Mann, der seine Kunst nicht für gut genug hält, um sie in Büchern und Zeitschriften drucken zu lassen. Denn eigentlich sind ist es erst einmal nur Liebeslieder für seine Frau Blumke und Wiegenlieder für die Töchter Chawa, Schifra und Lea. Aber es sind eben auch immer wieder und immer mehr Lieder über das Leben der kleinen Leute von nebenan, in Kazimierz. Gebirtig schreibt Volkslieder im wahrsten Sinne des Wortes, und mit dem Volk verbreiten sie sich dann auch in Windeseile durch ganz Polen. Sanfte Lieder ebenso wie scharfe, politische und Lieder gegen die Unmenschichkeit, von denen besonders das eine in den Zeiten der Hitlerokkupation für den jüdischen Widerstand zur Partisanenhymne werden sollte: „Undser schtetl brent“ (Unser Städtchen brennt). Jeder kennt dieses Lied, aber kaum jemand den Dichter, der es geschrieben hat. Denn die meisten von Gebirtigs Werken tragen noch nicht einmal seinen Namen. Aber für die jüdischen Auswanderer sind sie ein Stück Heimat, das sie mitnehmen können ins Irgendwohin. Nach Deutschland ebenso wie in die Neue Welt. Und plötzlich duftet der Frühling in der Fremde Amerikas fast so wie daheim…


Tod im Krakauer Ghetto

1939 überfallen deutsche Truppen Polen. Krakau, die Heimatstadt Gebirtigs und Hochburg der jüdischen Kultur in Osteuropa, wird zum Regierungssitz des sogenannten „General-Gouvernements“.Als die Juden Krakau verlassen müssen, findet der Tischler aus Kazimierz mit seiner Familie in einem kleinen Dorf in der Nähe Unterschlupf. Irgendwann zwischen Ende 1941 und Anfang 1942 machen sich die Gebirtigs dann doch wieder auf den Weg zurück in ihre Heimatstadt. Es wird ihr Weg ins Ghetto Podgorze sein. Hier, in einem Stadtteil Krakaus, der früher ausschließlich von Polen bewohnt wurde, pferchen die Nazis an die 60 Tausend Juden ein. Hier schreibt Gebirtig seine letzten Lieder. An einem Junitag des Jahres 1942 wird er auf offener Straße erschossen.


Ulrike Müller
(gekürzte Fassung eines Beitrags der Autorin für den V. Almanach der Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft, Wupper-tal: „In meinem Turm in den Wolken“, hrsgg. von Ulla Hahn und Hajo Jahn, Peter Hammer-Verlag 2002)


Mordechai Gebirtig:
Hungerik, dajn Kezele

Schlof schojn, majn hungerik mejdele
Mach schojn di ejgelech zu,
Hungerik is ojch dajn mamele
Un wejnt nischt un schrajt nischt wi du.
Lern sich, kind, fun dajn mamele,
Nem alz wi si nemt far lib,
Morgn ss’wet ojfschten majn mejdele,
Wet sajn a ssach brojt in schtub –
Aj lju lju, aj lju lju lju, Aj lju lju, aj lju lju lju

Schlof schojn, majn krojnenju!
Schlof schojn, majn narisch klejn mejdele,
Woss is hajnt epess mit dir?
Hungerik is ojch dajn kezele
Un ss’hot gor kejn tajness zu mir.
Her, wi ess miauket, ess redt zu dir:
– Mejdl, los mamen zuru! –
Hungerik is ojch klejn kezele,
Un ss’wejnt nischt asoj wi du –
Aj lju lju, aj lju lju lju,
Schlaf schojn, majn krojnen ju!

Schlof schojn, majn orem klejn mejdele,
Wajl der schlof lindert di nojt,
Hungerik is ojch dajn ljalkele
Un wejnt nischt un mont nischt kejn brojt.
Lern sich, kind, fun dajn ljalkele,
Wejsst woss si tracht azind?
– Oj, wi batribt is a mamele,
Wen hungerik is ir kind –
Aj lju lju, aj lju lju lju,
Schlof schojn, majn krojnenju!


Hungrig (ist auch) dein Kätzchen

Schlaf schon, mein hungriges Mädelchen,
Mach schon die Äugelchen zu,
Hungrig ist auch dein Mütterchen
Und weint nicht und schreit wie du.
Lerne, Kind, von deinem Mütterchen,
Nimm mit allem, wie sie es nimmt, fürlieb
Morgen wird es aufstehen mein Mädelchen,
Wird sein eine Menge Brot in der Stube –
Aj lju lju, aj lju lju lju
Schlaf schon, meine Krone du!

Schlaf schon, mein närrisches, kleines Mädelchen,
Was ist heute nur mit Dir?
Hungrig ist auch dein Kätzchen
Und es macht mir gar keine Vorwürfe
Hör, wie es miaut, es redet zu dir:
– Mädchen, laß Mutter in Ruh!
Hungrig ist auch das kleine Kätzchen,
Und es weint nicht so wie du –
Aj lju lju, aj lju lju lju,
Schlaf schon, meine Krone du!

Schlaf schon, mein armes kleines Mädchen
Weil der Schlaf lindert die Not,
Hungrig ist auch dein Püppchen
Und weint nicht und fordert kein Brot
Lerne, Kind, von deinem Püppchen,
Weißt du, was es jetzt denkt?
– Oh, wie betrübt ist ein Mütterchen,
– Wenn hungrig ist ihr Kind –
Aj lju lju, aj lju lju lju,
Schlaf schon, meine Krone du!


Transkription und Übersetzung: Angelika Rudolph
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Edition Künstlertreff, Wuppertal,

Quelle: Mordechaj Gebirtig „Jiddische Lieder“
ISBN 3-9803098-0-0


Bildcopyright:

Edition Künstlertreff


Links (deutsch):

http://www.mordechaj-gebirtig.de

http://www.hagalil.com/europa/polen/krakau.htm

http://www.manfred-lemm.de

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