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Otten, Karl

H.A.M. 0

Karl Otten

Schriftsteller, Anarchist

 

Geb. 29.07.1889 in Oberkrüchten (Niederrhein)

Gest. 20.03.1963 in Locarno-Muralto


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Minusio ist ein altes Dorf mit einer urkundlich im 14. Jahrhundert erstmals erwähnten Kirche und etwas mehr als 7.000 Einwohnern. Zauberhaft gelegen zwischen Lago Maggiore und dem Monte Cardada, unscheinbarer als  Locarno, Ascona oder Brione s/m Minusio. Dennoch war Minusio anziehend für so gegensätzliche Charaktere wie die Dichter Hermann Hesse (der hier allerdings nur kurze Zeit wohnte) und Stefan George, aber auch lange zuvor für Michail Alexandrowitsch Bakunin. Der Anarchist war Gast in der Villa La Baronata, einem großbürgerlichen Zufluchtsort für polizeilich gesuchte Revolutionäre. Ob Bakunin auch ein Grund war, warum der ehemalige Anarchist, der deutsche Schriftsteller und Exilant mit britischem Pass, Karl Otten, seinen letzten Wohnsitz in Minusio nahm, ist pure Spekulation.


Gewissheit ist, dass Stefan George seine letzte Ruhestätte auf dem Friedhof von Minusio gefunden hat. Zur Beerdigung des Lyrikers, der eine große Schar von „Jüngern“ um sich geschart hatte, war im Dezember 1933 auch der erfolglose Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg erschienen, dem Kritiker vorwerfen, also übervorsichtig und um sein eigenes Leben besorgt gewesen zu sein,  weil er den Diktator nicht von Mann zu Mann mit einer Pistole erschoss, was ihm möglich gewesen wäre. Seine Verteidiger meinen, er wäre bereits beim Ziehen der Pistole überwältigt worden, bevor er hätte schießen können.


Wenn er das aus der Tasche heraus getan hätte, wäre ihm vielleicht Erfolg beschieden gewesen. Aber auch das ist schiere Spekulation. Gewiss war er jedoch eine wichtige Person bei der Durchführung des Staatstreiches und in Berlin gebraucht. Dass er sein Leben riskiert hat, steht außerfrage. Hasenfüßig waren auf jeden Fall jene „großen“ Feldmarschälle, die beim Attentat nicht mitmachen wollten, jedoch die ganze Unrechtsentwicklung nach 1933 mitgemacht hatten. Stauffenberg entfernte sich, nachdem er seine Aktentasche mit dem Sprengstoff  hinterlegt hatte. Bekanntlich hat Hitler das Attentat überlebt. Der Wehrmachtsoffizier Stauffenberg, der zuvor am Krieg mit- und Karriere gemacht hatte, so lange gesiegt wurde, wurde von den Nazis hingerichtet.


Stauffenberg wird heute als Widerstandskämpfer in Deutschland hoch geachtet und geehrt, nachdem er von Nationalisten auch noch in der freien Bundesrepublik lange angefeindet wurde.


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Kaum geehrt und fast vergessen in unserer Demokratie sind dagegen die meisten Exilanten und Widerständigen vom Schlage eines Karl Otten. Er ist geradezu das Gegenteil zum Berufsoffizier Stauffenberg. Männer wie Otten hatten allerdings auch kaum die Wahl zwischen Exil und Widerstand.


Karl Otten wuchs im Rheinland und Ruhrgebiet auf. Er gehörte ab 1907 zu einem literarischen Kreis um Walter Hasenclever und Ludwig Strauss. Als Student der Volkswirtschaft an der Uni München schloss sich der 21jährige der anarchistischen Vereinigung „Tat“ um den Schriftsteller Erich Mühsam an und bekam Kontakt zu Autoren wie Heinrich Mann und Frank Wedekind.


Unbequeme Leute wie Karl Otten, Sohn eines Zollbeamten, der ausgerechnet beim Schmuggeln ertappt und von der Universität Bonn relegiert worden war,  sperrt man am besten weg. Besonders wenn fast das ganze Kaiserreich 1914 begeistert einen Krieg begrüßt: Gleich zu Beginn wurde er wegen seiner anarchistischen und pazifistischen Haltungen zeitweise interniert. Um dann, schizophrener geht’s nimmer, als „Arbeitssoldat“ bei einer Briefzensurstelle in Trier eingesetzt zu werden.


1918, der erste Weltkrieg neigte sich unaufhaltsam seinem Ende zu, fielen zwei Ereignisse im Leben Karl Otten relativ zusammen: Die Veröffentlichung seines ersten Lyrikbuchs „Die Thronerhebung des Herzens“ und seine erneute Verhaftung. Er wurde  in die Festung Koblenz weggesperrt. Nach der sogenannten Novemberrevolution kam Otten jedoch bald wieder auf freien Fuß.


Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Freilassung erfolgt Ottens Übersiedlung mit der 1916 geheirateten  österreichischen Künstlerin Marie Rosalie („Mitzi“) Friedmann  nach Wien. Hier lernt Karl die Schriftsteller Joseph Roth, Robert Musil und Alfred Polgar kennen. Er bekommt Kontakt zu Sigmund Freud und schreibt flammende Artikel. Darin propagiert er den Umsturz in Deutschland. So bleibt keine Zeit für ein Familienleben, trotz eines Sohnes. Er trennt sich von seiner Frau, zieht nach Berlin und arbeitet als Journalist bis zur „Machtergreifung“.


12. März 1933: Karl Otten flieht aus Deutschland über Paris nach Mallorca. Hier überrascht ihn der spanische Bürgerkrieg. Wieder muss er mit Internierung rechnen. Erneut flüchtete er nach Frankreich und weiter nach Großbritannien. In London trifft er auf andere Exilanten aus Deutschland und Österreich: Max Herrmann-Neiße, Alfred Kerr, Robert Neumann oder Stefan Zweig. Hier wird Karl Otten für verschiedene deutsch- und englischsprachige Publikationen sowie für Radiosendungen der BBC tätig. Als er vollständig erblindet, hilft ihm seine zweite Ehefrau Ellen, die er 1930 kennengelernt und 1939 in England geheiratet hatte, bei der journalistischen Arbeit. 1947 erhält Karl Otten die britische Staatsangehörigkeit. 1958 tauscht er das kühle London gegen das idyllische Minusio. Dort finden sich keine Spuren mehr von ihm.


Seine Denkmale sind die Veröffentlichungen, darunter einer der wichtigsten Romane über den spanischen Bürgerkrieg: „Torquemadas Schatten“, erschienen in Schweden, einem anderen wichtigen Exilland. Im britischen Exil übersetzt Otten seine eigenen Arbeiten aus dem Deutschen ins Englische, so seine soziologischen Analyse des Nationalsozialismus. Sie erschien 1942 unter dem Titel A combine of aggression. Es ist bezeichnend für viele Exilantenschicksale, dass das deutsche Original der Otten-Arbeit erst Jahrzehnte später, 1989, als Geplante Illusionen veröffentlicht wurde.


Sein Lebensunterhalt war auch Ottens Berufung: In Großbritannien hält er Vorträge über verfolgte  jüdische und expressionistische Autoren, deren Texte er in Anthologien herausgibt. Nach der Befreiung von den Nazis wird er in der Bundesrepublik Mitglied der  Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz sowie der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. 1961 erhält der ehemalige Exilant den Leo-Baeck-Preis.


Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach verleiht den „Karl-Otten-Preis für Expressionismus und Exilforschung“. Für Zeitgeschichtler und Literaturstudenten ist sein umfangreiches Werk eine Fundgrube. Für ein „Zentrum der verfolgten Künste und Intellektuellen“ wäre Leben und Werk des Karl Otten exemplarisch. Aber daran ist dem deutschen Staat wenig gelegen. Er finanziert lieber das „Zentrum gegen Vertreibung“ jener Menschen, die bis 1945 stillgehalten oder „Heil Hitler“ geschrien haben, initiiert vom Bund der Vertriebenen, der jahrzehntelang von Nazis geführt wurde.


Autor:

Hajo Jahn


Quelle:

Wikipedia


Veröffentlichungen von Karl Otten (Auswahl):

  • Die Reise durch Albanien 1912, München 1913
  • Der Sprung aus dem Fenster, Leipzig 1918
  • Die Thronerhebung des Herzens, Berlin-Wilmersdorf 1918
  • Lona, Wien 1920
  • Der Fall Strauss, Berlin 1925
  • Die Expedition nach San Domingo und Der schwarze Napoleon, Berlin 1931
  • Torquemadas Schatten, Stockholm 1938 (Neuauflage in der Bibliothek der verbrannten Bücher, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1982, ISBN 3-596-25137-0),
  • Der ewige Esel, Zürich [u.a.] 1949
  • Die Botschaft, Darmstadt [u.a.] 1957
  • Der Ölkomplex, Emsdetten (Westf.) 1959
  • Herbstgesang, Neuwied a. Rh. 1961
  • Wurzeln, Neuwied a. Rh. [u.a.] 1963
  • Der unbekannte Zivilist, Stuttgart 1981
  • Herbst 1939, Marbach am Neckar 1988
  • Geplante Illusionen : eine Analyse des Faschismus. Mit einem Nachw. von Lothar Baier, Luchterhand-Literaturverl., Frankfurt am Main 1989; zuerst A combine of aggression : masses, elite and dictatorship in Germany. Transl. by Eden Paul & F. M. Field (from the author’s German manuscript [hitherto unpublished]). London : Allen & Unwin 1942
  • Die Reise durch Albanien und andere Prosa, Zürich 1989
  • Das tägliche Gesicht der Zeit, Aachen 1989
  • Die Reise nach Deutschland, Bern [u.a.] 2000
  • Zuletzt erschien das „Karl Otten Lesebuch“ , zusammengestellt und mit einem Nachwort von Enno Stahl. Köln 2007 (= Nylands kleine rheinische Bibliothek, Bd. 1). ISBN 978-3-936235-17-3

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