René Leibowitz
Dirigent, Musikpädagoge, Schriftsteller und Komponist
Geb. 17.02.1913 in Warschau (damals zum Russ. Reich gehörend)
Gest. 29.08.1972 in Paris/ Frankreich
Ein großer Künstler, vielseitig wie wenige, doch als Komponist ist René Leibowitz dem deutschen ebenso wie dem französischen Konzertpublikum relativ unbekannt. Das hat ironischerweise auch damit zu tun, dass er durch seinen wohl berühmtesten und ambitioniertesten Schüler Pierre Boulez zusammen mit der musikalischen Vaterfigur Schönberggewissermaßen symbolisch aus dem Weg geräumt wurde: „Schoenberg est mort!“ (Darmstadt 1951).
Das künstlerische Leben von Leibowitz liest sich wie ein Who‘s Who der Avantgarde Neuer Musik. Und ist zugleich ein berührendes Zeugnis von Freundschaften unter großen Künstlern. Entstanden aus der gemeinsamen Verbundenheit zu einer bestimmten (modernen) Musikform, aber auch durch ähnliche Schicksale der Verfolgung.
Erstes Geld verdiente sich der jugendliche René Leibowitz in seiner Wahlheimat abends als – Barpianist, während er tagsüber u.a. ganz bürgerlich Schul- und Geigenunterricht hatte. Seine Kindheit verbrachte der Sohn assimilierter Juden in seiner Geburtsstadt Warschau, das damals noch zu Russland gehörte. Sein Lebensweg ist charakteristisch für die politischen Verwerfungen in Europa. Aber zunächst brachten ihn familiäre Gründe – die Trennung der Eltern und der Tod des Vaters – für kurze Zeit nach Berlin. Die Wiederverheiratung seiner Mutter führte ihn in die französische Hauptstadt, die „Heimat mit Unterbrechungen“ werden sollte. Und zwar ab 1929 oder 1930, gesicherte Daten gibt es wie bei anderen Lebensstationen nicht.
Gesichert jedoch ist, dass er 1936 in Paris ein Konzert des Kolisch-Quartetts besuchte – ein musikalisches Erweckungserlebnis. Der Violinist Rudolf Kolisch (* 20. Juli 1896 in Klamm, Niederösterreich; † 1. August 1978 in Watertown, Massachusetts) hatte 1921 das später nach ihm benannte Streichquartett gegründet, das auf Tourneen durch Europa schnell bekannt und berühmt wurde für seine Ur- und Erstaufführungen von Komponisten der „Zweiten Wiener Schule“ (Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton von Webern). Häufig wurden die Interpretationen in engem Kontakt mit den Komponisten erarbeitet. Dies galt vor allem für Werke Schönbergs, der als Spiritus rector auch darüber hinaus großen Einfluss auf seinen Schwager Rudolf Kolisch und dessen Quartett hatte.
Mit Kolisch blieb Leibowitz ein Leben lang befreundet – ein Leben, dass für beide Künstler ohne die von den Nationalsozialisten erzwungene innere und äußere Emigration vermutlich anders verlaufen wäre. Das „Kolisch-Quartett“, das zu den zentralen internationalen Klangkörpern der Musik des 20. Jahrhunderts gehörte, zerfiel nach der Flucht in die USA. Die starke Konkurrenz der vielen Exilanten aus Europa dürfte dafür ein wesentlicher Grund gewesen sein.
Eine ebenso wichtige Rolle im Leben des René Leibowitz wie Kolisch sollte auch Erich Itor Kahn spielen. Kahn (* 23. Juli 1905 in Rimbach im Odenwald; † 5. März 1956 in New York) war als Jude und Komponist sogenannter „entarteter Musik“ von den Nationalsozialisten ins Exil getrieben worden. Zunächst nach Frankreich, wo er nach dem Einmarsch der Wehrmacht interniert wurde, bevor er 1941 mit Hilfe des Amerikaners Varian Frey und dessen Flüchtlingskomitee über Marseille und Casablanca in die USA ausreisen konnte. Auch das kompositorische Werk von Erich Itor Kahn steht in engem Zusammenhang mit der Schönberg-Schule und der Zwölftonmusik.
Der Exilant Kahn wurde für den jungen Leibowitz in Paris „der“ Lehrer. Unter seinem Einfluss begann er 1937/38 neben dem Studium dodekaphoner Partituren selbst zu komponieren, zwölftonig. Fast zeitgleich arbeitete er von 1938 bis 1940 als Musikredakteur für den „Esprit“, einer linkskatholischen Zeitschrift. In einem kulturpolitisch-ideologisch aufgeheizten Klima bekannte sich René Leibowitz zur Zwöltonmusik. Arnold Schönberg (* 13. September 1874 in Wien; † 13. Juli 1951 in Los Angeles) jedoch sollte er erst nach dem Ende der Nazi-Diktatur durch Vermittlung von Paul Dessau (* 19. Dezember 1894 in Hamburg; † 28. Juni 1979 in Königs Wusterhausen bei Berlin).
Paul Dessau war ebenfalls ein deutscher Jude, Komponist, Dirigent und politisch links engagiert. Obwohl er nach 1945 in die DDR ging, blieb die Freundschaft zu Leibowitz bestehen. Die Leibowitz-Biografin Sabine Meine glaubt, dass diese Bekanntschaft im Umfeld der kommunistischen Partei Frankreichs entstanden ist.
Auch für Sabine Meine weist der Lebenslauf von Leibowitz für die Kriegsjahre zwischen 1940 und 45 „noch viele Lücken“ auf. Er soll zunächst in Paris interniert gewesen sein, bevor er im Sommer 1940 zu seiner Familie in die sogenannte Südzone flüchten konnte, offiziell: État français „Französischer Staat“. De facto war es die „unbesetzten Zone“ Frankreichs, benannt nach dem Kurort und Regierungssitz Vichy in der Auvergne.
Versuche seiner Freunde, René Leibowitz (und Familie) in die USA ausreisen zu lassen, verliefen ergebnislos. So nutzte er diese Zeit erzwungener öffentlicher Arbeitslosigkeit für intensive Partiturstudien, für das Komponieren sowie Verfassen und Redigieren seiner wichtigsten theoretischen Schriften, pflegte aber neue Freundschaften zu dem Dadaisten Tristan Tzara, zu Kollegen wie Boris de Schloezer oder dem Galeristen Daniel-Henry Kahnweiler.
Tragischerweise kam Joseph Leibowitz, der Bruder von René, noch kurz vor der Befreiung der „Südzone“ bei einer Razzia durch die deutsche Wehrmacht ums Leben. Sabine Meine schreibt dazu: „Ein Ereignis, das die Nöte der Kriegsjahre für Leibowitz auf tragische Weise abschloss. Die beiden Brüder hatten bis zu René Leibowitz’ Rückkehr nach Paris in enger persönlicher Verbundenheit gelebt. Unter diesen Bedingungen ist Reinhard Kapps These überzeugend, dass hinter Leibowitz’ Engagement für Arnold Schönbergs „Überlebenden aus Warschau“, dessen Partitur er ausschrieb, eine tiefere persönliche Identifikation mit dem Stück stand.“
René Leibowitz soll aber bereits zuvor, nämlich gegen Ende 1943, illegal nach Paris zurück gekehrt und unter dem Decknamen René Hubert le Beau de Montalet aktiv am Widerstand beteiligt gewesen sein. Dazu noch einmal Sabine Meine: „Bis zur Befreiung von Paris fand er Unterschlupf bei Georges Bataille im Atelier des Malers Balthus in der Cour de Rohan, nahe der Place de l’Odéon, und soll über Batailles Vermittlung an der Rettung von Dokumenten aus dem Nachlass Walter Benjamins beteiligt gewesen sein. In einem vom Widerstand geprägten Kontext fand aufgrund von Leibowitz’ Initiative 1944 die Aufnahme von Arnold Schönbergs Bläserquintett (neben Musik von Paul Hindemith und Darius Milhaud) in den Räumen des von den Deutschen besetzten französischen Rundfunks in der rue du Bac statt, deren Sendung nach der Befreiung von Paris zu einem symbolischen Akt geriet.“
Heute gilt René Leibowitz, der übrigens ein Cousin des jüdischen Religionsphilosophen Jeschajahu Leibowitz war, als wichtiger Vertreter der französischen Dodekaphonisten. Er war nicht nur Lehrer von P. Boulez u., sondern auch von Hans Werner Henze. Leibowitz komponierte zwei Opern, vier Sinfonien, Streichquartette, Kammermusik und Lieder. In seinen theoretischen Schriften setzte er sich, wie bereits angedeutet, besonders für die Musik der Zweiten Wiener Schule um Arnold Schönberg ein: zunächst in seiner Wahlheimat Frankreich (noch im Untergrund während der deutschen Besetzung), nach 1945 auch in Deutschland. Seit Ende der 1940er Jahre wirkte er als Lehrer bei den Kranichsteiner/Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik. In dieser und anderen Funktionen wurde Leibowitz zur Schlüsselfigur für die Verbreitung von Ästhetik und Technik der Zwölftonmusik in der europäischen Nachkriegsavantgarde.
Auch als Dirigent hat René Leibowitz Spuren hinterlassen mit seinen antiromantischen Schallplatteninterpretationen der Beethoven-Sinfonien, die Ersteinspielungen der Gurre-Lieder von Arnold Schönberg (1953) auf Langspielplatte und einiger Jacques Offenbach-Operetten. Besonders wertvoll sind auch zwei Opern-Querschnitte aus Manon Lescaut (Puccini) und Manon (Massenet), die von RCA in Deutschland unter dem Titel „Ein Porträt der Manon“ angeboten wurden. In der Bundesrepublik dirigierte René Leibowitz u.a. die Sinfonieorchester des NDR.
Bearbeitung:
Hajo Jahn
Quellen:
Sabine Meine im „Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit“ Wikipedia
Links (deutsch):
http://de.wikipedia.org/wiki/Ren%C3%A9_Leibowitz
http://www.lexm.uni-hamburg.de/object/lexm_lexmperson_00001423
https://portal.dnb.de/opac.htm?query=Woe%3D119276941&method=simpleSearch
http://othes.univie.ac.at/10901/1/2010-06-19_9107672.pdf
http://www.paul-sacher-stiftung.ch/en/home.html
http://www.muspe.unibo.it/wwcat/biblio/leibowitz/leibo.htm
http://www.schoenberg.at/library/index.php/authors/show/518
http://www.youtube.com/view_play_list?p=FC6839D4B9B7F530
International:
http://fr.wikipedia.org/wiki/Ren%C3%A9_Leibowitz
http://en.wikipedia.org/wiki/Ren%C3%A9_Leibowitz
http://www.angelfire.com/music2/reneleibowitz/rl.html
http://www.bach-cantatas.com/Bio/Leibowitz-Rene.htm
CD-Neuerscheinung (Februar 2013) bei divox (CDX-21103-04) RENÉ LEIBOWITZ LE COMPOSITEUR Musik für Stimmen und Instrumente (World Premiere Recordings) Truike van der Poel, Ekkehard Abele, J. Marc Reichow u.a.
Solisten der SCHOLA HEIDELBERG und des ensemble aisthesis, Ltg. Walter Nußbaum Violin Concerto (Premiere 1961) Ivry Gitlis, RSO des NDR, Ltg. René Leibowitz
Besucherservice aus Anlass der Veranstaltung:
RENÉ LEIBOWITZ LE COMPOSITEUR – eine literarisch-musikalische Matinee am 100. Geburtstag des Komponisten, Kompositionslehrers, Dirigenten und Publizisten
René Leibowitz (17.02.1913 Warschau – 29.08.1972 Paris)
veranstaltet von der Else Lasker-Schüler Gesellschaft
im Deutschen Zentrum für Verfolgte Künste
im Meistermann-Saal des Kunstmuseums Solingen
Sonntag, 17.Februar 2013, 11:00
Begrüßung Dr.Rolf Jessewitsch
Einführung Hajo Jahn
Truike van der Poel, Mezzosopran und Zitate J. Marc Reichow, Klavier und Moderation
Aufgeführte Musik:
- Paul Dessau (1894-1979) ‚Guernica‘ Klavierstück nach Picasso (Widmung: Für René Leibowitz) Paris 1937
- René Leibowitz II. aus: Tre Intermezzi per pianoforte op.87 1970
- Arnold Schönberg (1874-1951) Zwei Lieder für tiefe Stimme und Klavier aus op.48 Nr. 1 ‚Sommermüd‘ (Jakob Haringer) Nr. 2 ‚Tot‘ (Jakob Haringer) Berlin 1933 (veröffentlicht 1950)
- René Leibowitz II. Choral aus: Petite Suite pour piano op.75 Barcelona/Paris 1966
- René Leibowitz Trois Études miniatures pour piano op.64 Paris 1965
- René Leibowitz Deux Poèmes de Michel Leiris op.76a I. Vers la source II. À qui l’on aime Paris 1966
Besucherservice zum Nachlesen – im Vortrag benutzte Zitate aus folgenden Veröffentlichungen:
- René Leibowitz et Konrad Wolff Erich Itor Kahn – Un grand représentant de la Musique contemporaine Paris 1957 (Übs. JMR, zit.n. 4.)
- René Leibowitz ‚Qu’est-ce que la musique de douze sons?‘ Paris 1947 (Übs. JMR, zit.n. 4.)
- René Leibowitz SCHOENBERG Paris 1969, p.128 (Übs. JMR)
- J. Marc Reichow ‚Leibowitz le compositeur‘ Booklettext (2007) zur CD-Edition RENÉ LEIBOWITZ (1913-1972) – COMPOSITEUR (Musique de Chambre / Violin Concerto) Solisten, SCHOLA HEIDELBERG, ensemble aisthesis, Ltg. Walter Nußbaum Ivry Gitlis (Violine), Rundfunkorchester Hannover, Ltg. René Leibowitz CDX-21103/04 Divox AG 2013 (2CDs im Schuber, Booklet 152 S.)
Erscheinung Anfang März vgl. http://www.openpr.com/news/251530/Anniversary-Edition-R-ne-Leibowitz.html?SID=b5dff6c5aa536ac5ddef023b8461249f
Projektseite beim KlangForum Heidelberg http://www.klanghd.de/Leibowitz.html
Besucherservice – im Vortrag erwähnte Namen:
- Paul Dessau
- Erich Itor Kahn
- Rudolf Kolisch
- Anton Webern
- Alban Berg
- Maurice Ravel
- Jakob Haringer
- Claude Lévi-Strauss
- Pierre Boulez
- Hans-Werner Henze
- Mikis Theodorakis
- Albert Camus
- Jean-Paul Sartre
- Georges Limbour
- Georges Bataille
- Balthus
- Paul Celan
- Theodor W. Adorno
- Maurice Merleau-Ponty
- Daniel-Henry Kahnweiler
- Michel Leiris
- Cora Leibowitz
- June van Ingen
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