Fazıl Say
Pianist und Komponist
Geb. 14.01. 1970 in Ankara/ Türkei
Ein gesundheitliches Handicap wird Wegbereiter für ein großes musikalisches Talent: Seine Eltern – der Vater, Ahmet Say, ist ein türkischer Musikwissenschaftler und Schriftsteller – schenken dem mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte geboren Sohn auf ärztliche Empfehlung ein Blasinstrument, um Fazıls durch die Spalte beeinträchtigte Mundmuskulatur zu trainieren. Später folgt noch eine elektronische Orgel, auf der er Mozart- und Beethoven-Sinfonien spielt und bereits im Alter von fünf Jahren Klavierunterricht bei einem Schüler Alfred Cortots erhält. Damit beginnt eine musikalische Karriere der sehr ungewöhnlichen Art.
Bereits im Alter von 14 Jahren schreibt er seine erste Klaviersonate. 1985 werden David Levine und Aribert Reimann, die einen Workshop in Ankara abhalten, auf den Jugendlichen aufmerksam, der damals Klavier und Komposition am staatlichen Konservatorium studiert. Sie holen ihn 1987 an die Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf, wo er Klavierschüler von David Levine wird. 1992 wechselt Say zur Universität der Künste Berlin, studiert dort bis 1995 und beteiligt sich in dieser Zeit an drei Wettbewerben, von denen er 1994 die ‘Young Concert Artists International Auditions‘ in New York gewinnt und damit den Grundstein für seine internationale Karriere legt.
Fortan spielt der junge türkische Pianist mit zahlreichen renommierten Orchestern, ist als Konzertpianist auf internationalen Festivals zu Gast und bespielt zudem alle bedeutenden Konzerthallen der Welt. In der Saison 2003/04 debütiert Fazil Say bei den Salzburger Festspielen, wo er seitdem regelmäßig zu Gast ist, ebenso beim Lincoln Center Festival New York, bei der International Piano Series London und der World Piano Series Tokyo. Seit 2006/2007 ist er für fünf Jahre einer der beiden Exklusivkünstler des Konzerthauses Dortmund. Bei Radio France ist Say 2003 und 2005 ‘Artist in Residence‘, desgleichen beim Musikfest Bremen 2005 sowie bei der Elbphilharmonie in Hamburg 2009/2010.
Aber nicht nur als Pianist, begehrter Kammermusiker und Duopartner der Geigerin Patricia Kopatchinskaja ist Fazıl Say erfolgreich, sondern auch und immer wieder als Komponist. So führt er während der Berliner 750-Jahr-Feier sein bereits im Alter von sechzehn Jahren geschriebenes Werk “Black Hymns“ auf, gefolgt 1991 von einem Konzert für Klavier, Geige und Orchester und 1996 der “Seidenstraße“, einem Klavierkonzert in Begleitung des Bostoner Kammerorchesters. Der auch in seiner türkischen Heimat vielbeachtete Künstler stellt 2003 sein Oratorium “Requiem für Metin Altıok“ einer mehrtausendfachen Zuhörerschaft in Istanbul vor. Die Uraufführung seines dem Dichter Nazım Hikmet gewidmeten Oratoriums “Nâzım“ erscheint auf DVD. Für die Stadt Wien komponiert er zum Mozartjahr 2006 als Auftragsarbeit ein Ballett und schreibt für die Salzburger Festspiele 2006 das Solo-Werk “Inside Serail“. Neben der Klassik gehören auch die Filmmusik und nicht zuletzt seine große Leidenschaft: der Jazz, zum breiten Repertoire des türkischen Ausnahme-Musikers, der sich selber gern als “komponierenden Pianisten“ bezeichnet.
Der international renommierte Künstler macht sich allerdings in seiner Geburtsheimat am Bosporus nicht nur Freunde, ganz im Gegenteil: Im Dezember 2007 entbrennt eine heftige öffentliche Diskussion in der Türkei und weiteren Ländern Europas, als Say in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung die politische Situation sowie die Lage der Menschenrechte in der Türkei beklagt und sogar über Emigration nachdenkt. Auch seine offen zum Ausdruck gebrachte Ablehnung des in der Türkei bei bestimmten Gesellschaftsschichten populären Arabesk-Pops sorgt immer wieder für heftige Diskussionen im eigenen Land.
Zu einer Welle öffentlicher Empörung auch und vor allem in religiösen Kreisen kommt es jedoch Anfang April 2012, als sich der Musiker in seinem Twitter-Account über einen Muezzin und den Koran amüsiert. “‘Ist das Paradies etwa ein Bordell?‘“ hatte Fazıl Say ohne größere Hintergedanken auf sein Twitter-Profil geschrieben. Dabei waren es noch nicht einmal seine eigenen Worte gewesen, die Say veröffentlichte.“ (Quelle: http://de.qantara.de/content/anklage-gegen-den-turkischen-pianisten-fazil-say-wegen-twitter-witz-am-pranger).
Vielmehr beruft sich der bekannte türkische Pianist lediglich auf Sätze, die dem mittelalterlichen persischen Dichter Omar Khayyam zugeschrieben werden. Doch dies interessiert in der aufgeheizten Stimmung nicht weiter, im Gegenteil: gegen den bekennenden Atheisten Say wird Anzeige unter dem Vorwurf der öffentlichen Herabwürdigung religiöser Werte erstattet. Die Istanbuler Staatsanwaltschaft nimmt strafrechtliche Ermittlungen gegen Say auf, unter Heranziehung von Artikel 216 des türkischen Strafgesetzbuches, in dem die “Verunglimpfung der religiösen Werte von Teilen der Bevölkerung“ unter Strafe gestellt wird.
Am 17. Oktober 2012 beginnt vor der 19. Strafkammer des Friedensgerichts in Istanbul der Prozess, der am 15. April 2013 mit einer Verurteilung wegen Blasphemie zu zehn Monaten Haft auf Bewährung endet. Das Urteil wird aufgrund von Verfahrensfehlern zwar wieder aufgehoben, aber der Prozess geht weiter und endet im September mit der Bestätigung des Strafmaßes.
Damit steht Fazil Say in einer Reihe mit anderen türkischen Künstlern, die ins Visier der derzeitigen Regierungspartei AKP unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan geraten. “Ähnlich wie Fazil Say ist zuletzt 2009 der türkische Schriftsteller Nedim Gürsel aufgrund angeblicher islamfeindlicher Äußerungen in Konflikt mit dem Gesetz gekommen. Der Autor des Romans „Allahs Töchter“ wurde in seiner Heimat wegen Blasphemie verklagt.“ (Hier zitiert aus: http://de.qantara.de/content/anklage-gegen-den-turkischen-pianisten-fazil-say-wegen-twitter-witz-am-pranger).
Neben den Vorwürfen der “Verunglimpfung religiöser Werte“ ist es auch die Erwähnung des Völkermordes an den Armeniern 1915/16, die in der Türkei seit Jahrzehnten immer wieder als Anlass dient, unliebsame Stimmen mundtot zu machen. So verurteilt man 2006 den Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk wegen seiner Kritik am Umgang mit dem Tabuthema zu einer Schadenersatz-Zahlung in nicht unbeträchtlicher Höhe, und auch die Schriftstellerin Elif Shafak wird angeklagt, weil sie in ihrem Buch „Der Bastard von Istanbul“ die einstigen Gräueltaten der jungtürkischen Regierung thematisiert. Der Kampf um eine moderne Türkei kann mitunter sehr unbequem sein. Nicht zuletzt für widerständige Intellektuelle und Künstler wie Fazıl Say. Aber, so der Weltklasse-Pianist 2013 in einem ZDF-Interview: “Künstler müssen auch Stellung nehmen. Das habe ich immer getan!“
Quellen:
http://de.wikipedia.org/wiki/Fazil_Say
http://fazilsay.com/discography/
Links (deutsch):
http://www.schott-musik.de/shop/persons/az/66842
https://portal.dnb.de/opac.htm?method=simpleSearch&query=132551365
http://www.labkultur.tv/video/zeitinsel-ii-fazil-say-istanbul-sinfonie-musik-zum-traeumen
http://www.deutsch-tuerkische-nachrichten.de/2012/02/408744/fazil-say-ich-wollte-nicht-die-musik-zu-%E2%80%9Efetih-1453-komponieren/
http://www.youtube.com/watch?v=uRMWKj2SMF8
http://www.youtube.com/watch?v=e32iN2rmUXs
http://www.youtube.com/watch?v=EGqdLj2M1h4
http://concert.arte.tv/fr/fazil-say-interprete-ravel-et-gershwin-en-direct-de-lalte-oper-francfort
http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/uebersicht/mehr-gleichheit-als-die-freiheit-ertraegt-1.652594
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012-10/tuerkei-prozess-pianist-fazil-say
http://www.deutschlandfunk.de/musikalischer-brueckenbau.727.de.html?dram:article_id=224891
International:
http://www.imdb.com/name/nm1845996/
http://fr.wikipedia.org/wiki/Faz%C4%B1l_Say
http://www.lefigaro.fr/musique/2012/10/19/03006-20121019ARTFIG00313-fazil-say-dans-la-tourmente.php
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