Stefan Themerson
Dichter, Romancier, Filmemacher, Komponist, Verleger und Philosoph
Geb. 25.10. 1910 in Płock/ Russ. Reich
Gest. 06.09. 1988 in London/ GB
Jugend und Kindheit verlebt der Sohn aus einem jüdisch-stämmigen Elternhaus in seiner Geburtsstadt an der Weichsel, einhundert Kilometer nordwestlich von Warschau, der (nach Moskau und St. Petersburg) damals drittgrößten Stadt im russischen Zarenreich, dem das Königreich Polen Mitte des 19. Jahrhunderts einverleibt worden war. Themersons Vater, seines Zeichens Mediziner und Sozialreformer mit schriftstellerischem Talent, dient im Ersten Weltkrieg als Stabsarzt in der Zarenarmee. Mehrmals wechselt die Familie ihre Wohnort, lebt in Riga, St. Petersburg, Wielkie Luki und kehrt nach Kriegsende 1918 ins nun endlich wieder freie Polen und nach Płock zurück. Hier besucht Sohn Stefan das König Władisław Jagiello Gymnasium, zeigt in dieser Zeit bereits Interesse an der Fotografie und baut mit 14 seinen ersten eigenen Kristallradio-Empfänger.
Im Jahr 1928 beginnt Themerson an der Universität Warschau ein Studium der Physik, wechselt nach einem Jahr an die TU Warschau, um Architektur zu studieren, verbringt aber in Wirklichkeit die meiste Zeit mit Photographie, Film und Collage – und beginnt mit dem Schreiben. Während seines Studiums, das er nie abschließen wird, lernt er die (1907 in Warschau geborene) Kunststudentin Franciszka Weinles kennen.
Nach ihrer Heirat 1931 leben und arbeiten die Eheleute bis 1935 in der polnischen Hauptstadt. Stefan schreibt Artikel für diverse Zeitschriften, daneben Prosa und Gedichte für Schulbücher, und verfasst an die zehn Kinderbücher, zu denen Franciszka (die schon als Kind unter dem Klavier ihrer Mutter erste Porträ-Zeichnungen angefertigt hat) die Illustrationen fertigt (“Pan Tom Buduje Dom“, dt.: “Herr Tom baut ein Haus“ hat Generationen von jungen Lesern begeistert und wird bis heute in Polen aufgelegt). Stefan Themerson experimentiert auch mit Fotogrammen und dreht mit seiner Frau fünf experimentell Kurzfilme: “Apteka“ (“Apotheke“, 1930), “Europa“ (1931/32), “Drobiazg Melodyjny“ (“Musikalisches Moment“, 1933), “Zwarcie“ (“Kurzschluss“, 1935) und “Przygoda Czlowieka Poczciwego“ (“Die Abenteuer eines braven Mannes“, 1937). Die meisten der Filme sind im Laufe der Zeit verloren gegangen, das Drehbuch zu “Europa“, fußend auf einem Gedicht von Anatol Stern, wird später von den Themersons in ihrem eigenen Verlag Gaberbocchus Press veröffentlicht, illustriert durch erhaltene Standfotos aus dem Film. “Apteka“ wird auf der Grundlage von Beschreibungen, Standfotos und Drehbüchern neu verfilmt.
1935 gründen Stefan und Franciszka zusammen mit anderen jungen Filmemachern ein eigenes Unternehmen (“Spoldzielnia Autorow Filmowych“), besuchen in den Jahren 1936 und 1937 Paris, damals das Weltzentrum der avantgardistischen Kunst, und London, wo sie {ln:Moholy-Nagy, Lázló ‚Lázló Moholy-Nagy} und andere experimentelle Künstler treffen. Zurückgekehrt nach Polen, zeigen sie auch dort erstmals ihre Filme und geben eine Filmzeitschrift heraus, die allerdings nach zwei Ausgaben wieder eingestellt wird. Die kinobegeisterten Pioniere des Avantgarde-Films in Polen (und Erfinder des Tricktisches) übersiedeln im Winter 1937 nach Paris und finden auch hier sehr schnell Kontakt auch zu Künstlern und Schriftstellern, viele von ihnen mit polnischen Wurzeln wie die Themersons. Stefan schreibt für polnische Schulbücher und diverse Publikationen (z.B. “Flammarion“), seine Frau zeichnet und illustriert. Sie planen neue Filmprojekte – und werden vom Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im Herbst überrascht.
Stefan Themerson meldet sich freiwillig zur polnischen Armee in Frankreich, wird im Jahr 1940 zu einem polnischen Infanterieregiment eingezogen und erlebt den deutschen Einmarsch und den Zusammenbruch der Alliierten. Franciszka arbeitet als Kartografin bei der Armee und wird in dieser Eigenschaft per Schiff nach London gebracht, um dort Karten für das Militär zu zeichnen. Im Juni wird Themersons Einheit aufgelöst, er selber verbringt eine Zeit in Flüchtlingslagern, arbeitet als Landarbeiter und lebt über ein Jahr im vom polnischen Roten Kreuz betriebenen Hôtel de la Poste in Voiron im Südosten Frankreichs, unweit von Grenoble. Hier widmet er sich wieder seiner schriftstellerischer Tätigkeit, beginnt die Arbeit an einem Roman in polnischer Sprache (später erschienen in Großbritannien unter dem Titel “Professor Mmaa’s Lecture“) und schreibt das Gedicht “Croquis dans les Ténèbres“ (“Skizzen in der Finsternis“). Gegen Jahresende 1942 gelangt er über Marseille und Spanien nach Lissabon, von wo aus er von der Royal Air Force nach Großbritannien geflogen wird. Hier trifft er Franciszka wieder und meldet sich nochmals zur polnischen Armee. Ihre Familien im von Nazi-Deutschland besetzten Polen werden die Themersons nicht mehr wiedersehen, lediglich Franziskas Nichte überlebt die Nazi-Gräuel und kann 1946 auf die britische Insel geholt werden.
Eine Zeitlang verbringt Stefan als Soldat in Schottland, kann hier den in Frankreich begonnenen Roman fertigstellen und wird anschließend zu einer Filmeinheit des polnischen Ministeriums für Information und Kommunikation nach London abgeordnet. Als Kooperationsprojekt der beiden Eheleute entstehen dort zwei Kurzfilme: “Calling Mr Smith“, über Nazi-Verbrechen in Polen (ein Antikriegsfilm, der von den britischen Behörden zensiert wird!) und “The Eye and the Ear“, inspiriert durch vier Lieder des polnischen Komponisten Karol Maciej Szymanowski. 1944, bei einem Treffen des P.E.N. Clubs zur Feier des dreihundertsten Jahrestages des Erscheinens von John Miltons “Areopagitica“, trifft Themerson den deutschen Maler-Bildhauer-Poeten und Schöpfer von Lautgedichten wie “Anna Blume“, {ln:Schwitters, Kurt ‚Kurt Schwitters}, mit dem ihn fortan eine lebenslange Freundschaft verbinden wird. Auch {ln:Adler, Jankel ‚Jankel Adler}, Julian Trevelyan und Anthony Froshaug gehören zum engen Bekannten- und Freundeskreis der Themersons.
Stefan und Franciszka Themerson, die mittlerweile in Maida Vale im Großraum London wohnen, publizieren von 1948 bis 1979 an die 60 ungewöhnliche Bücher in ihrem eigenen Verlag, der Gaberbocchus Press (“Jabberwocky Verlag“), viele davon mit Franciszkas Illustrationen und immer wieder auch in Zusammenarbeit mit der Übersetzerin Barbara Wright. Darunter Werke von Guillaume Apollinaire und Kurt Schwitters, die ersten englischen Übersetzungen von Alfred Jarrys “Ubu Roi“ und Raymond Queneaus “Exercises de Style“ sowie “The Good Citizen’s Alphabet“ aus der Feder von Bertrand Russell, der auch das Vorwort zu “Professor Mmaa’s Lecture“ schreibt. 1958 rufen die Themersons mit “The common room“ in London den ersten Künstlertreffpunkt ins Leben. Hier trifft sich die Kultur- und Wissenschaftsszene der britischen Hauptstadt zum Filmegucken und lockeren Gedankenaustausch bei Tee und Gebäck. Stefan komponiert eine “kulinarische Oper“, Franciszka zeichnet weiter, arbeitet viel mit Griffel und Messer und experimentiert in ihrem Atelier mit Kaligrammen. Viele der von ihr verworfenen Arbeiten (die dem Werk von Dubuffet ähneln) rettet ihr Ehemann heimlich und versteckt sie unter dem Bett. Daneben entstehen Entwürfe fürs Theater, u.a. auch für das Marionetten-Theater Stockholm unter der Leitung seines Gründers Michael Meschke. Franciszka Themersons ungewöhnlichen Arbeiten werden später auch mit einer Goldmedaille für Bühnendesign ausgezeichnet. Sie, die sich immer gewünscht hat, zuerst sterben zu dürfen, schließt im Juni 1988 die Augen. Kaum drei Monate später stirbt auch Stefan Themerson.
Quellen:
“Themerson und Themerson“. Die Träumerin und der Denker – ein Künstlerpaar, das sich über 60 Jahre lang inspirierte“. Ausgestrahlt auf arte am 6. Juni 2015, 23.30 h
{ln:nw:https://de.wikipedia.org/wiki/Stefan_Themerson }
International:
{ln:nw:http://www.themersonarchive.com/index.htm }
{ln:nw:http://themerson.pl/ }
{ln:nw:http://nmars.home.xs4all.nl/Themerson.html }
{ln:nw:http://www.gaberbocchus.nl/ }
{ln:nw:https://en.wikipedia.org/wiki/Stefan_Themerson }
{ln:nw:https://en.wikipedia.org/wiki/Franciszka_Themerson }
{ln:nw:http://culture.pl/en/artist/stefan-and-franciszka-themerson }
{ln:nw:http://culture.pl/en/work/ubu-franciszka-themerson }
{ln:nw:http://www.gvart.co.uk/ }
{ln:nw:http://data.bnf.fr/11926337/stefan_themerson/ }
{ln:nw:http://data.bnf.fr/11926336/franciszka_themerson/ }
{ln:nw:http://www.imdb.com/name/nm3906686/ }
{ln:nw:http://www.apgef.com/franciszka-themerson-une-artiste-aux-multiples-talents-exposee-a-londres-ou-kaczka-dziwaczka-entreprend-son-tour-de-leurope/ }
{ln:nw:http://bibliotheque.bordeaux.fr/on-en-parle/post/les-films-de-stefan-et-franciszka-themerson }
{ln:nw:http://www.24images.fr/fr/catalogue/documentaire/article/themerson-themerson }
{ln:nw:https://www.youtube.com/watch?v=B7GtY5BBCl8 }
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