Aslı Erdoğan
Physikerin, Journalistin und Schriftstellerin
Geb. 08.03. 1967 in Istanbul/ Türkei
“Mit den Stilmitteln der Postmoderne und aus Traditionen der Weltliteratur schöpfend erkundet sie mit undogmatischem Blick sowohl ihre türkische Herkunft als auch die Fremde. Vor dem Hintergrund einer globalisierten Welt werden so das Spannungsfeld von Freiheit und Einsamkeit ausgelotet und die Nachbarschaft von Wirklichkeit und Wahn eruiert.“ *)
Ihr schriftstellerisches Talent zeigt sich schon in jungen Jahren: Bereits in ihrer Kindheit verfasst Aslı Erdoğan Gedichte und Kurzgeschichten, und als sie gerade einmal zehn Jahre jung ist, veröffentlicht eine Zeitschrift etwas von ihr. Dann folgt eine vorübergehende Schreibpause (die erst im Alter von 22 Jahren beendet sein wird). Bis 1983 besucht sie das englischsprachige “Robert College“ in Istanbul-Arnavutköy und immatrikuliert sich danach für die Fächer Informatik und Physik an der Bosporus-Universität.
Nach Abschluss des Studiums 1988 arbeitet Aslı Erdoğan an der dortigen Fakultät für Physik – und beginnt in dieser Zeit auch wieder mit dem Schreiben. 1990 entsteht ihre erste Novelle, mit der sie beim Literaturwettbewerb um den “Yunus-Nadi-Preis“ in der Türkei den dritten Platz belegt. Ihr Brotberuf ist und bleibt in dieser Zeit aber die wissenschaftliche Arbeit. 1991 erhält Erdogan die (auch und vor allem für Frauen zu dieser Zeit noch ungewöhnliche) Gelegenheit, am europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf über die Higgs-Partikel zu forschen. Trotz der von der 24jährigen Physikerin als durchaus belastend empfundenen Arbeits- und Konkurrenz-Situation in Genf stellt sie in dieser Zeit ihre Magisterarbeit fertig und verfasst parallel dazu ihren ersten Roman “Mucizevi Mandarin“ (dt.: “Der wundersame Mandarin“).
1993 kehrt Aslı Erdoğan nach Istanbul zurück, arbeitet als Assistentin an der Universität und setzt auch jetzt ihre schriftstellerische Tätigkeit fort: Innerhalb von zwei Monaten entsteht ihr Roman “Kabuk Adam“ (dt. etwa: “Der Muschelmann“). Da sie sich in der Türkei bedroht fühlt, übersiedelt die junge Wissenschaftlerin 1994 nach Brasilien, um an der Päpstlichen Universität von Rio de Janeiro (PUC-Rio) ihre Doktorarbeit zu schreiben. Angeregt durch ihr wachsendes Interesse an anthropologischen Fragestellungen unternimmt sie in dieser Zeit ausgedehnte Forschungsreisen ins Amazonasgebiet. 1994, noch während ihres Brasilienaufenthaltes, wird ihr zweiter Roman in der Türkei veröffentlicht.
1996 kehrt sie aufgrund finanzieller Schwierigkeiten in die Türkei zurück, wendet sich aber nun von der wissenschaftlichen Arbeit ab und widmet sich gänzlich dem literarischen und journalistischen Schreiben. Noch im selben Jahr vollendet und publizierte sie ihr (bereits zu Genfer Zeiten verfasstes) Buch “Mucizevi Mandarin“ (dt.: Der wundersame Mandarin). 1997 erscheint ihr Kurzgeschichtenband “Tahta Kuşlar“ (dt.: “Holzvögel“). Unter demselben Titel gewinnt eine dieser Erzählungen auch den von der Deutschen Welle in Köln ausgelobten Autorenwettbewerb für türkischsprachige Beiträge. Der Durchbruch als anerkannte Schriftstellerin gelingt Erdogan dann schließlich 1998 mit ihrem dritten Buch “Kırmızı Pelerinli Kent“ (dt.: “Die Stadt mit der roten Pelerine“).
In den Jahren 1998 bis 2001 erscheinen Kolumnen mit dem Titel “Der Andere“ in der linksliberalen türkischen Tageszeitung “Radikal“, sie berichtet über die Haftbedingungen in türkischen Gefängnissen, über Folter und Gewalt gegen Frauen, sie prangert die staatlichen Repressionen gegen Kurden an und unterstützt hungerstreikende Gefangene. Seit Anbeginn engagiert sich Aslı Erdoğan (deren Bücher u.a. auch ins Englische und Französische übersetzt werden) für Menschenrechtsfragen (sie gehört im Jahr 2008 mit zu den ersten Intellektuellen, die sich öffentlich bei den Armeniern für das erlittene Unrecht entschuldigen) und ist Mitglied im P.E.N.-Komitee “Schriftsteller in Haft“. Ihre Kolumnen erscheinen auch später als Buch unter dem Titel “Bir Yolculuk Ne Zaman Biter“. 2010 wird die Schriftstellerin für ihren Roman “Taş Bina ve Diğerleri“ (dt.: “Steingebäude“) mit der bedeutendsten literarischen Auszeichnung der Türkei, dem “Sait-Faik-Literaturpreis“, geehrt.
Von Dezember 2011 bis Mai 2012 weilt Aslı Erdoğan als “writer in residence“ des Literaturhauses Zürich und der Stiftung PWG in Zürich, ist von August 2012 bis zum Sommer 2013 “Asylschreiberin“ der Stadt Graz. Nach der Rückkehr in die Heimat setzte sie ihre Arbeit für die kurdisch-türkische Tageszeitung “Özgür Gündem“ (dt.: “Freie Agenda“) fort. Sie fühlt sich jedoch erneut bedroht und geht 2015 deshalb auf Einladung des “ICORN“ (“International Cities of Refugee Network“) als Gastschreiberin ins polnische Krakau.
Am 16. August 2016 wird Erdogan in Istanbul im Rahmen einer Verhaftungswelle von Journalisten und Mitarbeitern der pro-kurdischen Tageszeitung “Özgür Gündem“ festgenommen, nachdem zuvor die Zeitung auf Antrag der Staatsanwaltschaft geschlossen worden ist. Aslı Erdoğan wird “Propaganda für eine illegale Organisation“, “Mitgliedschaft bei einer illegalen Organisation“ und “Volksverhetzung“ vorgeworfen, als Beweismittel dienen dem Gericht ihre Artikel und Kolumnen. Der zuständige Haftrichter verfügt Aslı Erdoğans Überführung ins Bakirköy-Gefängnis. Am 18. August 2016 werden die meisten Journalisten von “Özgür Gündem“ wieder auf freien Fuß gesetzt, wohingegen Aslı Erdoğan weiterhin in Untersuchungshaft festgehalten wird.
Im September verleiht der schwedische P.E.N. der Inhaftierten den {ln:Tucholsky, Kurt ‚Tucholsky}-Preis, im selben Monat wird dem Schweizer Fernsehen (SRF) ein Brief von Aslı Erdoğan zugespielt, in dem sie über die Verhaftung in Istanbul berichtet. Ihr Appell, die vom Regime von Präsident Recep Tayyip Erdoğan ins Gefängnis geworfenen Schriftsteller nicht zu vergessen, steht im Mittelpunkt der Rede von Heinrich Riethmüller zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 2016. Im November 2016 fordert die Staatsanwaltschaft in Istanbul eine lebenslange Haftstrafe für die unter gesundheitlichen Problemen leidende und auf Medikamente angewiesene Schriftstellerin und Journalistin, der u.a. die Mitgliedschaft in und Propaganda für die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK vorgeworfen wird.
Quellen:
*) hier zitiert aus:
{ln:nw:http://www.literaturfestival.com/archiv/teilnehmer/autoren/2007/asli-erdogan }
{ln:nw:https://de.wikipedia.org/wiki/Asl%C4%B1_Erdo%C4%9Fan }
{ln:nw:http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/tuerkische-autorin-asli-erdogan-in-tuerkei-festgenommen-14393005.html }
{ln:nw:http://www.deutschlandradiokultur.de/inhaftierte-autorin-asli-erdogan-repression-gegen-eine.1270.de.html?dram:article_id=365191 }
Links (deutsch):
{ln:nw:https://portal.dnb.de/opac.htm?method=simpleSearch&query=132394561 }
{ln:nw:https://www.reporter-ohne-grenzen.de/presse/pressemitteilungen/meldung/gericht-verbietet-kurdische-zeitung/ }
{ln:nw:http://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/schriftstellerin-asli-erdogan-verhaftet-zu-nah-am-feuer-ld.111479 }
{ln:nw:http://www.faz.net/newsletter/literatur/autoren/autorin-asli-erdogan-eine-tuerkische-winterreise-12007276.html }
{ln:nw:http://www.3sat.de/page/?source=%2Fkulturzeit%2Fnews%2F189644%2Findex.html }
{ln:nw:http://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/die-tuerkische-autorin-asli-erdogan-spricht-kassiber-aus-dem-gefaengnis-ld.113209 }
{ln:nw:http://www.srf.ch/news/international/vergesst-mich-nicht-und-meine-buecher-es-sind-meine-kinder }
International:
{ln:nw:http://icorn.org/article/asli-erdogan-new-icorn-writer-krakow }
{ln:nw:http://icorn.org/writer/asli-erdogan }
{ln:nw:http://www.worldcat.org/identities/lccn-no2007027299/ }
{ln:nw:https://pen.org/defending-writers/asli-erdogan }
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